Hermann Hesse als Schüler .. und als Erzähler seiner Schulgeschichte in Maulbronn
Hesse als Schüler - die Klosterschulen in der Kritik Hesses
Hermann Hesse berichtet von "Hekatomben von Schülern", also den Schülern als Opfer auf Altären...
Hans Giebenrath - der Schüler seines Romans "Unterm Rad" - war ohne Zweifel ein begabtes Kind; es genügte, ihn anzusehen, wie fein und abgesondert er zwischen den andern herumlief. Das kleine Schwarzwaldnest zeitigte sonst keine solchen Figuren, es war von dort nie ein Mensch ausgegangen, der einen Blick und eine Wirkung über das Engste hinaus gehabt hätte. Gott weiß, wo der Knabe die ernsthaften Augen und die gescheite Stirn und das Feine im Gang her hatte. Vielleicht von der Mutter? Sie war seit Jahren tot, und man hatte zu ihren Lebzeiten nichts Auffallendes an ihr bemerkt, als daß sie ewig kränklich und bekümmert gewesen war. Der Vater kam nicht in Betracht. Also war wirklich einmal der geheimnisvolle Funke von oben in das alte Nest gesprungen, das in seinen acht bis neun Jahrhunderten so viele tüchtige Bürger, aber noch nie ein Talent oder Genie hervorgebracht hatte.
Ein modern geschulter Beobachter hätte, sich an die schwächliche Mutter und an das stattliche Alter der Familie erinnernd, von Hypertrophie der Intelligenz als Symptom einer einsetzenden Degeneration sprechen können. Aber die Stadt war so glücklich, keine Leute von dieser Sorte zu beherbergen, und nur die Jüngeren und Schlaueren unter den Beamten und Schulmeistern hatten von der Existenz des »modernen Menschen« durch Zeitschriftenartikel eine unsichere Kunde. Man konnte dort noch leben und gebildet sein, ohne die Reden Zarathustras zu kennen; die Ehen waren solid und oft glücklich, und das ganze Leben hatte einen unheilbar altmodischen Habitus. Die warmgesessenen, wohlhabenden Bürger, von denen in den letzten zwanzig Jahren manche aus Handwerkern zu Fabrikanten geworden waren, nahmen zwar vor den Beamten die Hüte ab und suchten ihren Umgang, unter sich nannten sie sie aber Hungerleider und Schreibersknechte. Seltsamerweise kannten sie trotzdem keinen höheren Ehrgeiz als den, ihre Söhne womöglich studieren und Beamte werden zu lassen. Leider blieb dies so gut wie immer ein schöner, unerfüllter Traum; denn der Nachwuchs kam zumeist schon durch die Lateinschule nur mit großem Ächzen und wiederholtem Sitzenbleiben hindurch.
Über Hans Giebenraths Begabung gab es keinen Zweifel. Die Lehrer, der Rektor, die Nachbarn, der Stadtpfarrer, die Mitschüler und jedermann gab zu, der Bub sei ein feiner Kopf und überhaupt etwas Besonderes. Damit war seine Zukunft bestimmt und festgelegt. Denn in schwäbischen Landen gibt es für begabte Knaben, ihre Eltern müßten denn reich sein, nur einen einzigen schmalen Pfad: durchs Landexamen ins Seminar, von da ins Tübinger Stift und von dort entweder auf die Kanzel oder aufs Katheder. Jahr für Jahr betreten drei bis vier Dutzend Landessöhne diesen stillen, sicheren Weg, magere, überarbeitete Neukonfirmierte durchlaufen auf Staatskosten die verschiedenen Gebiete des humanistischen Wissens und treten acht oder neun Jahre später den zweiten, meist längeren Teil ihres Lebensweges an, auf welchem sie dem Staate die empfangenen Wohltaten heimbezahlen sollen.
In wenigen Wochen sollte das »Landexamen«, also die Auslesen unter den begabten Jungen ärmerer Familien, wieder stattfinden. So heißt die jährliche Hekatombe, bei welcher »der Staat« die geistige Blüte des Landes auswählt und während deren Dauer aus Städtchen und Dörfern Seufzer, Gebete und Wünsche zahlreicher Familien sich nach der Hauptstadt richten, in deren Schoß die Prüfung vor sich geht.
Hans Giebenrath war der einzige Kandidat, den das Städtlein zum peinlichen Wettbewerb zu entsenden dachte. Die Ehre war groß, doch hatte er sie keineswegs umsonst. An die Schulstunden, die täglich bis vier Uhr dauerten, schloß sich die griechische Extralektion beim Rektor an, um sechs war dann der Herr Stadtpfarrer so freundlich, eine Repetitionsstunde in Latein und Religion zu geben, und zweimal in der Woche fand nach
dem Abendessen noch eine einstündige Unterweisung beim Mathematiklehrer statt. Im Griechischen wurde nächst den unregelmäßigen Zeitwörtern hauptsächlich auf die in den Partikeln auszudrückende Mannigfaltigkeit der Satzverknüpfungen Wert gelegt, im Latein galt es klar und knapp im Stil zu sein und namentlich die vielen prosodischen Feinheiten zu kennen.
(Aus: H.H.: Unterm Rad. Erzählung. St 52. S. 9ff.)
Wie sah der Verfasser, der durch Hesse legitimierte auktoriale Erzähler, den Vater des nicht intellektuell, aber emotional und psychisch überforderten Hans?
Sein inneres Leben war das des Philisters....
Was er etwa an Gemüt besaß, war längst staubig geworden und bestand aus wenig mehr als einem traditionellen, barschen Familiensinn, einem Stolz auf seinen eigenen Sohn und einer gelegentlichen Schenklaune gegen Arme. Seine geistigen Fähigkeiten gingen nicht über eine angeborene, streng abgegrenzte Schlauheit und Rechenkunst hinaus. Seine Lektüre beschränkte sich auf die Zeitung, und um seinen Bedarf an Kunstgenüssen zu decken, war die jährliche Liebhaberaufführung des Bürgervereins und zwischenhinein der Besuch eines Zirkus hinreichend.
Er hätte mit jedem beliebigen Nachbarn Namen und Wohnung vertauschen können, ohne daß irgend etwas anders geworden wäre. Auch das Tiefste seiner Seele, das schlummerlose Mißtrauen gegen jede überlegene Kraft und Persönlichkeit und die instinktive aus Neid erwachsene Feindseligkeit gegen alles Unalltägliche, Freiere, Feinere, Geistige teilte er mit sämtlichen übrigen Hausvätern der Stadt. Genug von ihm.
(H. H.: Unterm Rad. S. 7f.)
Und diese Spannungen und Anforderungen hatte ein Sohnemann auszuhalten - oder an ihnen zu zerbrechen. Hermann Hesse läßt seinen Protagonisten scheitern; nicht nur weil er als Künstler somit eine Leistung und einen ästhetisch und sprachlich überzeugenden Baustein für sein Selbstwertgefühl. Seinen Zeitgenossen mutete er das zu, was er als Teilnehmer des Württemberger Landexamens 1891 erlebt und in der Klosterseminar Maulbronn durchlitten hatte; den Roman schrieb er Herbst/Winter 1903; veröffentlicht wurde er als Fortsetzungsroman in der Neuen Zürcher Zeitung 1904. Die Öffentlichkeit nahm ein erstaunliches Interesse und H. H. schrieb an Karl Isenberg (am 25.11.1904):
"Unterm Rad wird nächstes Jahr als Buch erscheinen, in Kleinigkeiten gemildert. Hoffentlich nimmst Du an den paar salzigen Stellen nicht zu sehr Anstoß. Die Schule ist die einzige moderne Kulturfrage, die ich ernst nehme und die mich gelegentlich aufregt. An mir hat die Schule viel kaputtgemacht, und ich kenne wenig bedeutendere Persönlichkeiten, denen es nicht ähnlich ging. Gelernt habe ich dort nur Latein und Lügen, denn ungelogen kam man in Calw und im Gymnasium nicht durch wie unser Hans beweist, den sie ja in Calw, weil er ehrlich war, fast umbrachten. Der ist auch, seit sie ihm in der Schule das Rückgrat gebrochen haben, immer unterm Rade geblieben.«
(GB 1. S. 130)
Und noch deutlicher, wenn auch begrifflich abgeklärter: Hesse wesentlich später aus dem Rückblick in »Begegnungen mit Vergangenem« (1953):
"In der Geschichte und Gestalt des kleinen Hans Giebenrath, zu dem als Mit und Gegenspieler sein Freund Heilner gehört, wollte ich die Krise jener Entwicklungsjahre darstellen und mich von der Erinnerung an sie befreien, und um bei diesem Versuche das, was mir an Überlegenheit und Reife fehlte, zu ersetzen, spielte ich ein wenig den Ankläger und Kritiker jenen Mächten gegenüber, denen Giebenrath erliegt und denen einst ich selber beinahe erlegen wäre: der Schule, der Theologie, der Tradition und Autorität."
(H.H.: GW 10. S. 352)
Auch seine autobiographischen Berichte über diese Schul- und Leidenszeit kamen später an die Öffentlichkeit.
So schrieb am 20. März 1892 Hesse einen klagenden Brief an seine Eltern:
»Während des Ausflugs selber hatte ich wenig Kopfweh. Jetzt aber noch mehr als vorher. Ich bin so müde, so kraft- und willenlos; ich arbeite, soviel ich eben muß, privatim treibe ich gegenwärtig gar nichts. Ich bin so. froh, wenn ich einen Augenblick habe, an dem ich nicht gehen, nicht denken muß. Aber deren gibts wenige. Ich bin nicht krank, nur eine mir ganz ungewohnte Schwäche fesselt mich: Ich kann mich kaum mehr ärgern, aber ich kann mich auch nicht freuen, nicht über den goldenen Sonnenschein, nicht über die nahen Ferien. Am liebsten ist mir's, wenn ich ein Viertelstündchen im Ostwind sitzen kann, oben auf dem rebengeschmückten Berg; da ist kein Haus, kein Mensch; ich denke an nichts, tue nichts, und freue mich über den Sturm, der mir die Augen und die Schläfe kühlt. Sogar der göttliche Messias, sogar Homers unsterblicher Gesang fesselt mich nimmer; mein Schiller liegt einsam da, nur hin und wieder lese ich Klopstocks gigantische Klage in den Oden.«
(Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen. Bd. I. 1877 - 1895. Ffm. 1966. S. 194)
Am 23. März 1892 wurde Hesse zunächst auf Anraten des Arztes nach Hause geschickt, kehrte nach einem Monat für kurze Zeit nach Maulbronn zurück und schied Anfang Mai 1892 endgültig aus der Klosterschule aus. Rückblickend schrieb er an Helene Voigt Diederichs am 24. April 1899:
"Ich war auch selber Klosterschüler in Maulbronn. Es war die Zeit meiner wildesten Stürme, zwischen Knaben und Jünglingsalter, und auf diese mächtigen Klostermauern und Kreuzgänge häuft meine Erinnerung allen unwiederbringlichen Glanz, der jener Zeit der ersten Ideale und Sehnsucht eigen ist. Wie voll genoß ich da die sich erschließenden Wunder Homers, wie lebte ich mich in die gotische Kühle der herrlichen steinernen Räume ein und litt doch zugleich unter der Klausur! Damals wußte ich noch nicht, daß das Ziel meiner brennenden Sehnsucht nirgends mit Händen zu greifen sei, ich sah die "Welt" in lockenden Farben liegen und schob alles Elend auf die strenge Verbannung in den Klostermauern. Es war der erste wichtige Schritt meines Lebens, als ich damals, voll glühenden Durstes nach Licht, Schönheit, Freiheit, aus dem Kloster entfloh, und ich leide noch heute unter dieser knabenhaften Geniereise. Was ich fand, das lohnte wahrlich diese verzweifelte Sehnsucht nicht. Dort liegt nun, im Schatten der Linden, mit den Bogenfenstern, Kreuzgängen und Kapellen, weltabgeschieden ein Stück meiner Jugend unerlöst und blickt mit Vorwurf mich an."
Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. In Zsarb. mit Heiner Hesse hrsg. von Ursula und Volker Michels. 4 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973 86. Bd. 1. S. 55 f. 0 1973 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
* ~ *
Was war vorgefallen? Das Scheitern an der Schule verdient aber noch mehr Aufmerksamkeit:
Am 7. März 1892 entlief Hesse aus der Klosterschule und wurde am Tag darauf von einem Landjäger zurückgebracht. Dies führte in der Folge zu seiner Entfernung aus dem Seminar.
Seine Mutter, Marie Hesse, notierte am 7./8. März 1892 in ihrem Tagebuch:
"Um 5 Uhr kommt der Postmann und ruft vor der Stubentür laut: "Ein Telegramm!" [ ... ] "Hermann fehlt seit zwei Uhr. Bitte um etwaige Auskunft". Welcher Schrecken! Was hat's gegeben? Adele bringt Johannes die Hiobspost und dieser telegraphiert zurück: "Wir wissen nichts. Bitte Beruhigung telegraphieren!" Nachts 9 [Uhr] kam wieder ein Telegramm: "Alle Schritte getan, bis jetzt ohne Erfolg". War das eine Schmerzensnacht! [ ... ] Zuerst hatte mich die Angst, Hermann sei in besondere Sünde und Schande gefallen, es sei dem Entweichen etwas besondres Böses vorausgegangen ganz qualvoll gefoltert, so daß ich ganz dankbar wurde, als ich endlich das Gefühl bekam, er sei in Gottes barmherziger Hand, vielleicht schon ganz bei Ihm, erlöst, gestorben. In einem der von ihm so bewunderten Seen ertrunken? [ ... ] Jedes Unglück, jedes bloße in Gottes Hand fallen, schien mir leichter zu tragen als Verschuldung von Hermanns Seite.«
(KuJ. Bd. I. S. 181f.)
Der Entschluß des Lehrerkollegiums, den Schüler Hermann Hesse aus der Klosterschule zu entfernen, wurde seinem Vater am 11. März 1892 von Gottlob Wilhelm Paulus (heute würde er Direktor genannt) mitgeteilt:
"Sehr geehrter Herr [Hesse], gestern ist im Lehrerkonvent über die Bestrafung Ihres Sohnes Hermann beraten worden, und ich habe die Pflicht, Sie von dem gefaßten Beschluß in Kenntnis zu setzen. Wir waren darin einig, daß die Verfehlung Hermanns nicht als vorbereitetes und zweckbewußtes Entweichen anzusehen, auch nicht eine Außerung des Mutwillens oder Trotzes sei, und daß die große geistige Aufregung und Störung, in welcher er gehandelt hat, als Milderungsgrund betrachtet werden müsse.
Es wurde deshalb eine Karzerstrafe von 8 Stunden festgesetzt, welche Hermann von 1/2 1 - 1/2 9 Uhr verbüßen wird.
Außerdem war es die übereinstimmende Ansicht des Konvents, daß das Verbleiben Hermanns im Seminar in doppelter Hinsicht nicht wünschenswert sei. Nämlich erstlich in seinem eigenen Interesse. Es ist bei der Untersuchung seines Vergehens an den Tag getreten, daß es ihm in hohem Grad an der Fähigkeit fehlt, sich selbst in Zucht zu halten und seinen Geist und sein Gemüt in die Schranken einzufügen, welche für sein Alter und für eine erfolgreiche Erziehung in einem Seminar notwendig sind. Wir sind daher der Überzeugung, daß für ihn der Besuch eines Gymnasiums, wenn er dabei in einer Familie untergebracht würde, wo er zu gleicher Zeit in fortwährender Zucht und Überwachung stünde und dabei durch das Familienleben gemütliche Anregung fände, um vieles vorteilhafter sein müßte. Fürs zweite aber glauben wir, daß sein Aufenthalt im Seminar für seine Mitschüler eine Gefahr werden könnte. Er ist zu erfüllt von überspannten Gedanken und übertriebenen Gefühlen, denen sich hinzugeben er nur zu geneigt ist. Wenn er nun diese seinen Kameraden mitteilt, so wird er entweder, wie dies bisher der Fall war kein Verständnis finden und sich infolge davon, nach seiner eigenen Aussage, vereinsamt und verkannt fühlen, oder aber, und das wäre eben mit der Zeit doch zu fürchten, wird er auch andere in seine unnatürliche und ungesunde Gedanken und Gefühlswelt hineinziehen."
(KuJ. I. S. 189)
Innerhalb der damaligen, autoritären, strengen, pietistisch frömmelnden Pädagogik ein außerordentliches Zeugnis von Verantwortung und Fürsorge durch die Schulleitung.
*
2002, lese ich:
Christoph Peters über Hesses "Unterm Rad":
Gerade habe ich es noch einmal gekauft, "Unterm Rad", um es zwanzig Jahre nach der ersten Lektüre wieder zu lesen, damit ich ein kompetentes Urteil fällen kann, ob das Buch meiner Ansicht nach in den Karton gehört. Gleichzeitig liegt ein wegen der Pfingstfeiertage verfrüht erschienenes Nachrichtenmagazin vor mir, daß "die 100 besten Bücher aller Zeiten" kennt, ausgewählt von hundert lebenden Schriftstellern.
Vor zwanzig Jahren befand ich mich in einem katholischen Jungeninternat am Niederrhein, war fünfzehn und so unglücklich, daß ich am liebsten gestorben wäre. Das Internatsgelände durfte nur zweimal pro Woche verlassen werden; wer eins der zahllosen Verbote übertrat, verbrachte den nächsten Tag, je nach Jahreszeit, Staub, Blätter oder Schnee fegend; es gab nirgends ein Mädchen, das mich hätte lieben können. Ein älterer Mitschüler drückte mir damals "Unterm Rad" in die Hand und sagte: „Lies das, es erzählt, wie es hier ist." Er hatte recht. Obwohl „Unterm Rad" bereits 1903 erschienen war und in einem schwäbisch protestantischen Internat spielte, sprach es von uns. Es beschrieb denselben Terror seitens der Kleriker, Erzieher, Lehrer, dieselben Verzweiflungen von Schülern, die sich trotzdem untereinander brutal quälten, statt eine Revolution zu wagen. Ich habe es verschlungen, danach einen Hesse Roman nach dem anderen gelesen, als ich alle kannte, wieder von vorn angefangen und den Jüngeren, die zerbrechen wollten, seine Bücher ans Herz gelegt, damit auch sie schwarz auf weiß sehen konnten, daß wir nicht die ersten waren, die diese Art Vorhölle durchlebten.
Bei den hundert Büchern des Nachrichtenmagazins wird "Unterm Rad" nicht genannt. Überhaupt nichts von Hesse. Wahrscheinlich ist das unter rein literarischen Rücksichten richtig, zumal es sich dort ja auch um eine Liste der gesamten Weltliteratur und nicht um die wichtigsten deutschen Texte handeln soll.
Achselzuckend überfliege ich die ersten zwei Seiten meines neuen "Unterm Rad" Bändchens, und merke, daß es mich gegenwärtig überhaupt nicht interessiert. Ich werde die Geschichte ruhen lassen und in guter Erinnerung behalten.
Dann schaue ich noch einmal die Liste der hier besprochenen, von Marcel Reich-Ranicki kanonisierten Bücher an, danach die der 100 besten". Das Buch, das mich in meinem Leben am meisten bewegt hat, das, von dem ich irgendwann mindestens drei Sätze pro Seite auswendig können möchte die "Jahrestage" von Uwe Johnson, kommt hier wie dort nicht vor.
Vier meiner fünf Lieblingsbücher sind in keiner der zur Zeit so beliebten Listen aufgetaucht. Ich kann mir das nicht erklären, ärgere mich maßlos und denke: Diese Kanones sind nichts anderes als Einrichtungsvorschläge für Bücherschränke von Leuten, die keine Zeit haben, ihre eigene Abenteuerreise des Lesens zu machen.
Hoffentlich ist die neue Ausgabe schön gebunden.
**
Von Christoph Peters, Jahrgang 1966, erschien zuletzt der Erzählungsband „Kommen und gehen, manchmal bleiben".
(FAZ 22.05.02)
Die Wirkungsgeschichte des Lebens und des Werks des Dichters Hermann Hesse kann nicht enden.
Hermann Hesse berichtet von "Hekatomben von Schülern", also den Schülern als Opfer auf Altären...
Hans Giebenrath - der Schüler seines Romans "Unterm Rad" - war ohne Zweifel ein begabtes Kind; es genügte, ihn anzusehen, wie fein und abgesondert er zwischen den andern herumlief. Das kleine Schwarzwaldnest zeitigte sonst keine solchen Figuren, es war von dort nie ein Mensch ausgegangen, der einen Blick und eine Wirkung über das Engste hinaus gehabt hätte. Gott weiß, wo der Knabe die ernsthaften Augen und die gescheite Stirn und das Feine im Gang her hatte. Vielleicht von der Mutter? Sie war seit Jahren tot, und man hatte zu ihren Lebzeiten nichts Auffallendes an ihr bemerkt, als daß sie ewig kränklich und bekümmert gewesen war. Der Vater kam nicht in Betracht. Also war wirklich einmal der geheimnisvolle Funke von oben in das alte Nest gesprungen, das in seinen acht bis neun Jahrhunderten so viele tüchtige Bürger, aber noch nie ein Talent oder Genie hervorgebracht hatte.
Ein modern geschulter Beobachter hätte, sich an die schwächliche Mutter und an das stattliche Alter der Familie erinnernd, von Hypertrophie der Intelligenz als Symptom einer einsetzenden Degeneration sprechen können. Aber die Stadt war so glücklich, keine Leute von dieser Sorte zu beherbergen, und nur die Jüngeren und Schlaueren unter den Beamten und Schulmeistern hatten von der Existenz des »modernen Menschen« durch Zeitschriftenartikel eine unsichere Kunde. Man konnte dort noch leben und gebildet sein, ohne die Reden Zarathustras zu kennen; die Ehen waren solid und oft glücklich, und das ganze Leben hatte einen unheilbar altmodischen Habitus. Die warmgesessenen, wohlhabenden Bürger, von denen in den letzten zwanzig Jahren manche aus Handwerkern zu Fabrikanten geworden waren, nahmen zwar vor den Beamten die Hüte ab und suchten ihren Umgang, unter sich nannten sie sie aber Hungerleider und Schreibersknechte. Seltsamerweise kannten sie trotzdem keinen höheren Ehrgeiz als den, ihre Söhne womöglich studieren und Beamte werden zu lassen. Leider blieb dies so gut wie immer ein schöner, unerfüllter Traum; denn der Nachwuchs kam zumeist schon durch die Lateinschule nur mit großem Ächzen und wiederholtem Sitzenbleiben hindurch.
Über Hans Giebenraths Begabung gab es keinen Zweifel. Die Lehrer, der Rektor, die Nachbarn, der Stadtpfarrer, die Mitschüler und jedermann gab zu, der Bub sei ein feiner Kopf und überhaupt etwas Besonderes. Damit war seine Zukunft bestimmt und festgelegt. Denn in schwäbischen Landen gibt es für begabte Knaben, ihre Eltern müßten denn reich sein, nur einen einzigen schmalen Pfad: durchs Landexamen ins Seminar, von da ins Tübinger Stift und von dort entweder auf die Kanzel oder aufs Katheder. Jahr für Jahr betreten drei bis vier Dutzend Landessöhne diesen stillen, sicheren Weg, magere, überarbeitete Neukonfirmierte durchlaufen auf Staatskosten die verschiedenen Gebiete des humanistischen Wissens und treten acht oder neun Jahre später den zweiten, meist längeren Teil ihres Lebensweges an, auf welchem sie dem Staate die empfangenen Wohltaten heimbezahlen sollen.
In wenigen Wochen sollte das »Landexamen«, also die Auslesen unter den begabten Jungen ärmerer Familien, wieder stattfinden. So heißt die jährliche Hekatombe, bei welcher »der Staat« die geistige Blüte des Landes auswählt und während deren Dauer aus Städtchen und Dörfern Seufzer, Gebete und Wünsche zahlreicher Familien sich nach der Hauptstadt richten, in deren Schoß die Prüfung vor sich geht.
Hans Giebenrath war der einzige Kandidat, den das Städtlein zum peinlichen Wettbewerb zu entsenden dachte. Die Ehre war groß, doch hatte er sie keineswegs umsonst. An die Schulstunden, die täglich bis vier Uhr dauerten, schloß sich die griechische Extralektion beim Rektor an, um sechs war dann der Herr Stadtpfarrer so freundlich, eine Repetitionsstunde in Latein und Religion zu geben, und zweimal in der Woche fand nach
dem Abendessen noch eine einstündige Unterweisung beim Mathematiklehrer statt. Im Griechischen wurde nächst den unregelmäßigen Zeitwörtern hauptsächlich auf die in den Partikeln auszudrückende Mannigfaltigkeit der Satzverknüpfungen Wert gelegt, im Latein galt es klar und knapp im Stil zu sein und namentlich die vielen prosodischen Feinheiten zu kennen.
(Aus: H.H.: Unterm Rad. Erzählung. St 52. S. 9ff.)
Wie sah der Verfasser, der durch Hesse legitimierte auktoriale Erzähler, den Vater des nicht intellektuell, aber emotional und psychisch überforderten Hans?
Sein inneres Leben war das des Philisters....
Was er etwa an Gemüt besaß, war längst staubig geworden und bestand aus wenig mehr als einem traditionellen, barschen Familiensinn, einem Stolz auf seinen eigenen Sohn und einer gelegentlichen Schenklaune gegen Arme. Seine geistigen Fähigkeiten gingen nicht über eine angeborene, streng abgegrenzte Schlauheit und Rechenkunst hinaus. Seine Lektüre beschränkte sich auf die Zeitung, und um seinen Bedarf an Kunstgenüssen zu decken, war die jährliche Liebhaberaufführung des Bürgervereins und zwischenhinein der Besuch eines Zirkus hinreichend.
Er hätte mit jedem beliebigen Nachbarn Namen und Wohnung vertauschen können, ohne daß irgend etwas anders geworden wäre. Auch das Tiefste seiner Seele, das schlummerlose Mißtrauen gegen jede überlegene Kraft und Persönlichkeit und die instinktive aus Neid erwachsene Feindseligkeit gegen alles Unalltägliche, Freiere, Feinere, Geistige teilte er mit sämtlichen übrigen Hausvätern der Stadt. Genug von ihm.
(H. H.: Unterm Rad. S. 7f.)
Und diese Spannungen und Anforderungen hatte ein Sohnemann auszuhalten - oder an ihnen zu zerbrechen. Hermann Hesse läßt seinen Protagonisten scheitern; nicht nur weil er als Künstler somit eine Leistung und einen ästhetisch und sprachlich überzeugenden Baustein für sein Selbstwertgefühl. Seinen Zeitgenossen mutete er das zu, was er als Teilnehmer des Württemberger Landexamens 1891 erlebt und in der Klosterseminar Maulbronn durchlitten hatte; den Roman schrieb er Herbst/Winter 1903; veröffentlicht wurde er als Fortsetzungsroman in der Neuen Zürcher Zeitung 1904. Die Öffentlichkeit nahm ein erstaunliches Interesse und H. H. schrieb an Karl Isenberg (am 25.11.1904):
"Unterm Rad wird nächstes Jahr als Buch erscheinen, in Kleinigkeiten gemildert. Hoffentlich nimmst Du an den paar salzigen Stellen nicht zu sehr Anstoß. Die Schule ist die einzige moderne Kulturfrage, die ich ernst nehme und die mich gelegentlich aufregt. An mir hat die Schule viel kaputtgemacht, und ich kenne wenig bedeutendere Persönlichkeiten, denen es nicht ähnlich ging. Gelernt habe ich dort nur Latein und Lügen, denn ungelogen kam man in Calw und im Gymnasium nicht durch wie unser Hans beweist, den sie ja in Calw, weil er ehrlich war, fast umbrachten. Der ist auch, seit sie ihm in der Schule das Rückgrat gebrochen haben, immer unterm Rade geblieben.«
(GB 1. S. 130)
Und noch deutlicher, wenn auch begrifflich abgeklärter: Hesse wesentlich später aus dem Rückblick in »Begegnungen mit Vergangenem« (1953):
"In der Geschichte und Gestalt des kleinen Hans Giebenrath, zu dem als Mit und Gegenspieler sein Freund Heilner gehört, wollte ich die Krise jener Entwicklungsjahre darstellen und mich von der Erinnerung an sie befreien, und um bei diesem Versuche das, was mir an Überlegenheit und Reife fehlte, zu ersetzen, spielte ich ein wenig den Ankläger und Kritiker jenen Mächten gegenüber, denen Giebenrath erliegt und denen einst ich selber beinahe erlegen wäre: der Schule, der Theologie, der Tradition und Autorität."
(H.H.: GW 10. S. 352)
Auch seine autobiographischen Berichte über diese Schul- und Leidenszeit kamen später an die Öffentlichkeit.
So schrieb am 20. März 1892 Hesse einen klagenden Brief an seine Eltern:
»Während des Ausflugs selber hatte ich wenig Kopfweh. Jetzt aber noch mehr als vorher. Ich bin so müde, so kraft- und willenlos; ich arbeite, soviel ich eben muß, privatim treibe ich gegenwärtig gar nichts. Ich bin so. froh, wenn ich einen Augenblick habe, an dem ich nicht gehen, nicht denken muß. Aber deren gibts wenige. Ich bin nicht krank, nur eine mir ganz ungewohnte Schwäche fesselt mich: Ich kann mich kaum mehr ärgern, aber ich kann mich auch nicht freuen, nicht über den goldenen Sonnenschein, nicht über die nahen Ferien. Am liebsten ist mir's, wenn ich ein Viertelstündchen im Ostwind sitzen kann, oben auf dem rebengeschmückten Berg; da ist kein Haus, kein Mensch; ich denke an nichts, tue nichts, und freue mich über den Sturm, der mir die Augen und die Schläfe kühlt. Sogar der göttliche Messias, sogar Homers unsterblicher Gesang fesselt mich nimmer; mein Schiller liegt einsam da, nur hin und wieder lese ich Klopstocks gigantische Klage in den Oden.«
(Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen. Bd. I. 1877 - 1895. Ffm. 1966. S. 194)
Am 23. März 1892 wurde Hesse zunächst auf Anraten des Arztes nach Hause geschickt, kehrte nach einem Monat für kurze Zeit nach Maulbronn zurück und schied Anfang Mai 1892 endgültig aus der Klosterschule aus. Rückblickend schrieb er an Helene Voigt Diederichs am 24. April 1899:
"Ich war auch selber Klosterschüler in Maulbronn. Es war die Zeit meiner wildesten Stürme, zwischen Knaben und Jünglingsalter, und auf diese mächtigen Klostermauern und Kreuzgänge häuft meine Erinnerung allen unwiederbringlichen Glanz, der jener Zeit der ersten Ideale und Sehnsucht eigen ist. Wie voll genoß ich da die sich erschließenden Wunder Homers, wie lebte ich mich in die gotische Kühle der herrlichen steinernen Räume ein und litt doch zugleich unter der Klausur! Damals wußte ich noch nicht, daß das Ziel meiner brennenden Sehnsucht nirgends mit Händen zu greifen sei, ich sah die "Welt" in lockenden Farben liegen und schob alles Elend auf die strenge Verbannung in den Klostermauern. Es war der erste wichtige Schritt meines Lebens, als ich damals, voll glühenden Durstes nach Licht, Schönheit, Freiheit, aus dem Kloster entfloh, und ich leide noch heute unter dieser knabenhaften Geniereise. Was ich fand, das lohnte wahrlich diese verzweifelte Sehnsucht nicht. Dort liegt nun, im Schatten der Linden, mit den Bogenfenstern, Kreuzgängen und Kapellen, weltabgeschieden ein Stück meiner Jugend unerlöst und blickt mit Vorwurf mich an."
Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. In Zsarb. mit Heiner Hesse hrsg. von Ursula und Volker Michels. 4 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973 86. Bd. 1. S. 55 f. 0 1973 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
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Was war vorgefallen? Das Scheitern an der Schule verdient aber noch mehr Aufmerksamkeit:
Am 7. März 1892 entlief Hesse aus der Klosterschule und wurde am Tag darauf von einem Landjäger zurückgebracht. Dies führte in der Folge zu seiner Entfernung aus dem Seminar.
Seine Mutter, Marie Hesse, notierte am 7./8. März 1892 in ihrem Tagebuch:
"Um 5 Uhr kommt der Postmann und ruft vor der Stubentür laut: "Ein Telegramm!" [ ... ] "Hermann fehlt seit zwei Uhr. Bitte um etwaige Auskunft". Welcher Schrecken! Was hat's gegeben? Adele bringt Johannes die Hiobspost und dieser telegraphiert zurück: "Wir wissen nichts. Bitte Beruhigung telegraphieren!" Nachts 9 [Uhr] kam wieder ein Telegramm: "Alle Schritte getan, bis jetzt ohne Erfolg". War das eine Schmerzensnacht! [ ... ] Zuerst hatte mich die Angst, Hermann sei in besondere Sünde und Schande gefallen, es sei dem Entweichen etwas besondres Böses vorausgegangen ganz qualvoll gefoltert, so daß ich ganz dankbar wurde, als ich endlich das Gefühl bekam, er sei in Gottes barmherziger Hand, vielleicht schon ganz bei Ihm, erlöst, gestorben. In einem der von ihm so bewunderten Seen ertrunken? [ ... ] Jedes Unglück, jedes bloße in Gottes Hand fallen, schien mir leichter zu tragen als Verschuldung von Hermanns Seite.«
(KuJ. Bd. I. S. 181f.)
Der Entschluß des Lehrerkollegiums, den Schüler Hermann Hesse aus der Klosterschule zu entfernen, wurde seinem Vater am 11. März 1892 von Gottlob Wilhelm Paulus (heute würde er Direktor genannt) mitgeteilt:
"Sehr geehrter Herr [Hesse], gestern ist im Lehrerkonvent über die Bestrafung Ihres Sohnes Hermann beraten worden, und ich habe die Pflicht, Sie von dem gefaßten Beschluß in Kenntnis zu setzen. Wir waren darin einig, daß die Verfehlung Hermanns nicht als vorbereitetes und zweckbewußtes Entweichen anzusehen, auch nicht eine Außerung des Mutwillens oder Trotzes sei, und daß die große geistige Aufregung und Störung, in welcher er gehandelt hat, als Milderungsgrund betrachtet werden müsse.
Es wurde deshalb eine Karzerstrafe von 8 Stunden festgesetzt, welche Hermann von 1/2 1 - 1/2 9 Uhr verbüßen wird.
Außerdem war es die übereinstimmende Ansicht des Konvents, daß das Verbleiben Hermanns im Seminar in doppelter Hinsicht nicht wünschenswert sei. Nämlich erstlich in seinem eigenen Interesse. Es ist bei der Untersuchung seines Vergehens an den Tag getreten, daß es ihm in hohem Grad an der Fähigkeit fehlt, sich selbst in Zucht zu halten und seinen Geist und sein Gemüt in die Schranken einzufügen, welche für sein Alter und für eine erfolgreiche Erziehung in einem Seminar notwendig sind. Wir sind daher der Überzeugung, daß für ihn der Besuch eines Gymnasiums, wenn er dabei in einer Familie untergebracht würde, wo er zu gleicher Zeit in fortwährender Zucht und Überwachung stünde und dabei durch das Familienleben gemütliche Anregung fände, um vieles vorteilhafter sein müßte. Fürs zweite aber glauben wir, daß sein Aufenthalt im Seminar für seine Mitschüler eine Gefahr werden könnte. Er ist zu erfüllt von überspannten Gedanken und übertriebenen Gefühlen, denen sich hinzugeben er nur zu geneigt ist. Wenn er nun diese seinen Kameraden mitteilt, so wird er entweder, wie dies bisher der Fall war kein Verständnis finden und sich infolge davon, nach seiner eigenen Aussage, vereinsamt und verkannt fühlen, oder aber, und das wäre eben mit der Zeit doch zu fürchten, wird er auch andere in seine unnatürliche und ungesunde Gedanken und Gefühlswelt hineinziehen."
(KuJ. I. S. 189)
Innerhalb der damaligen, autoritären, strengen, pietistisch frömmelnden Pädagogik ein außerordentliches Zeugnis von Verantwortung und Fürsorge durch die Schulleitung.
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2002, lese ich:
Christoph Peters über Hesses "Unterm Rad":
Gerade habe ich es noch einmal gekauft, "Unterm Rad", um es zwanzig Jahre nach der ersten Lektüre wieder zu lesen, damit ich ein kompetentes Urteil fällen kann, ob das Buch meiner Ansicht nach in den Karton gehört. Gleichzeitig liegt ein wegen der Pfingstfeiertage verfrüht erschienenes Nachrichtenmagazin vor mir, daß "die 100 besten Bücher aller Zeiten" kennt, ausgewählt von hundert lebenden Schriftstellern.
Vor zwanzig Jahren befand ich mich in einem katholischen Jungeninternat am Niederrhein, war fünfzehn und so unglücklich, daß ich am liebsten gestorben wäre. Das Internatsgelände durfte nur zweimal pro Woche verlassen werden; wer eins der zahllosen Verbote übertrat, verbrachte den nächsten Tag, je nach Jahreszeit, Staub, Blätter oder Schnee fegend; es gab nirgends ein Mädchen, das mich hätte lieben können. Ein älterer Mitschüler drückte mir damals "Unterm Rad" in die Hand und sagte: „Lies das, es erzählt, wie es hier ist." Er hatte recht. Obwohl „Unterm Rad" bereits 1903 erschienen war und in einem schwäbisch protestantischen Internat spielte, sprach es von uns. Es beschrieb denselben Terror seitens der Kleriker, Erzieher, Lehrer, dieselben Verzweiflungen von Schülern, die sich trotzdem untereinander brutal quälten, statt eine Revolution zu wagen. Ich habe es verschlungen, danach einen Hesse Roman nach dem anderen gelesen, als ich alle kannte, wieder von vorn angefangen und den Jüngeren, die zerbrechen wollten, seine Bücher ans Herz gelegt, damit auch sie schwarz auf weiß sehen konnten, daß wir nicht die ersten waren, die diese Art Vorhölle durchlebten.
Bei den hundert Büchern des Nachrichtenmagazins wird "Unterm Rad" nicht genannt. Überhaupt nichts von Hesse. Wahrscheinlich ist das unter rein literarischen Rücksichten richtig, zumal es sich dort ja auch um eine Liste der gesamten Weltliteratur und nicht um die wichtigsten deutschen Texte handeln soll.
Achselzuckend überfliege ich die ersten zwei Seiten meines neuen "Unterm Rad" Bändchens, und merke, daß es mich gegenwärtig überhaupt nicht interessiert. Ich werde die Geschichte ruhen lassen und in guter Erinnerung behalten.
Dann schaue ich noch einmal die Liste der hier besprochenen, von Marcel Reich-Ranicki kanonisierten Bücher an, danach die der 100 besten". Das Buch, das mich in meinem Leben am meisten bewegt hat, das, von dem ich irgendwann mindestens drei Sätze pro Seite auswendig können möchte die "Jahrestage" von Uwe Johnson, kommt hier wie dort nicht vor.
Vier meiner fünf Lieblingsbücher sind in keiner der zur Zeit so beliebten Listen aufgetaucht. Ich kann mir das nicht erklären, ärgere mich maßlos und denke: Diese Kanones sind nichts anderes als Einrichtungsvorschläge für Bücherschränke von Leuten, die keine Zeit haben, ihre eigene Abenteuerreise des Lesens zu machen.
Hoffentlich ist die neue Ausgabe schön gebunden.
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Von Christoph Peters, Jahrgang 1966, erschien zuletzt der Erzählungsband „Kommen und gehen, manchmal bleiben".
(FAZ 22.05.02)
Die Wirkungsgeschichte des Lebens und des Werks des Dichters Hermann Hesse kann nicht enden.
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