Hänschen und Marie
Marie genoss diesen Moment des Alleinseins. Innerlich fast schwebend saß sie auf dieser Bank am Molfsee, einem See in der schleswig-holsteinischen Landschaft. Mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf genoss sie die Strahlen der Abendsonne in ihrem Gesicht, spürte den kühlen Hauch des Abendwindes auf ihrer Haut. Tiefes Atmen und das Spüren ihres Lebens, die Schreie der Vögel von der Möweninsel und das leise Plätschern der Wellen am Uferrand bescherten ihr einen dieser dankbaren Momente, in denen man das Alleinsein genießt, ohne sich einsam zu fühlen.
Es war die Bank ihrer Kindheit. Vor über dreißig Jahren hatte sie hier ihren ersten Kuss bekommen, eine heimliche Zigarette geraucht, Rotwein aus der Flasche getrunken. Sie dachte zurück an diese lärmenden Abende mit ihren Freunden. An Peter, den Wilden, der neunzehnjährig bei einem Motorradunfall starb; an Horst, den Lautesten von ihnen, der heute als erfolgreicher Bauunternehmer und Vorsitzender der Freiwilligen Feuerwehr die Geschicke des Dorfes mit in der Hand hat; an Martina die mit 15 gerade das dritte Mal verlobt war und mit 18 schon verheiratet, an Siegfried, den Fussballbegeisterten, der noch heute in der Alten Herren von früheren „glorreichen“ Zeiten erzählt; und Hans fällt ihr ein, der Stille, der durch seine tiefe Nachdenklichkeit stets etwas geheimnisvoll und zart erschien.
Hans war es, der sie damals zum ersten Mal küsste. Hier, auf dieser Bank. Ängstlich, zurückhaltend und ein bisschen tumb, so dass sie noch heute darüber lächeln muss. Dabei erschien ihr dieser Kuss trotz dieser Ungelenkheit so unglaublich zärtlich und sanft.
Und ein paar Wochen später hatte sie ihm so weh getan in ihrer kindlichen Naivität – ob er heute noch genauso an diesen Moment zurückdenkt, wie sie es jetzt tat? Sie würde ihm gerne sagen, dass das, was sie damals nur als lächerlich empfand, so tief ging, dass sie es manchmal heute noch als fernen, wehmütigen Schmerz spürte.
Damals, nach diesem Kuss, trafen sie sich fast jeden Abend an dieser Stelle – heimlich, die Clique sollte es nicht wissen. Es war ein Sommer mit langen, milden Abenden. Beide konnten sie nicht schwimmen und hatten das vor den anderen stets zu verbergen gewusst. Trotzdem gingen sie nun ins Wasser. Gemeinsam, Hand in Hand. Bis zum Bauch und ein wenig tiefer.
In den Abendstunden schien das Wasser besonders lau. Der Wind, der schon die beginnende Kühle der Nacht in sich trug, umfächelte ihre Schultern. Das Wasser spürten sie mild an ihren Körpern. Und wie einen schwachen elektrischen Strom spürten sie etwas über ihre Hände in die Körper fließen. Ohne dabei zu reden genossen beide still die Geborgenheit, die sie durch die Ruhe ringsherum zu umarmen schienen. Und niemals vorher empfand Marie die Sonne, die hinter dem Wäldchen hinter der Vogelinsel unterging, so tief, so rot, so leuchtend und so warm wie in jenen Tagen.
Erst als nur noch ein dunkelroter Schimmer in den Abendwolken zu erkennen war, die Dämmerung über den Tag zu gewinnen begann und die Kühle sich durch ein leichtes Zittern im Körper bemerkbar machte, gingen sie an das Ufer zurück, trockneten sich mit den weißen Frotteetüchern ab, die über der Bank lagen, und liefen Hand in Hand heimwärts.
Marie wunderte sich darüber, wie wenig sie eigentlich damals miteinander sprachen. Denn sie hatte immer das Gefühl gehabt, sie hätten viel miteinander geredet. Und sie wunderte sich darüber, wie selbstverständlich sie ihr Zusammensein empfunden hatte.
Es waren wunderschöne Abende gewesen. Doch schon bald hatte Marie den Wunsch, auf den See hinauszuschwimmen – hinein in die flachen Wellen, die den rötlichen Widerschein des Abends in sich trugen. Eines Tages – Hänschen war im Zeltlager – sprach sie mit ihrer Mutter darüber, und die zeigte ihr die ersten Trockenübungen; Onkel Karl ging an einem Samstagnachmittag mit ihr an den See, um sie bei den ersten Versuchen zu halten und zu leiten. Prima ging’s, und von Tag zu Tag wurden die Kreise, die sie schwimmen konnte, größer.
Den ersten gemeinsamen Abend nach Hänschens Zeltlager empfand sie als etwas ganz Besonderes, sie hatte sich sehr darauf gefreut und saß schon eine halbe Stunde auf der Bank, bis er endlich kam. Kein Kuss, nur dieser strahlende Blick, als er sich langsam bis auf die Badehose auszog. Innerlich lachte sie und wusste gar nicht so richtig, warum. Als Hänschen dann ihre Hand nahm, schmiegte sie sich eng an seine Arm. Gang langsam taten sie die erste Schritte, doch plötzlich liefen sie in den See hinein und blieben schweratmend dort stehen, wo sie gerade noch Grund hatten.
Und wieder empfand Marie alles so wunderschön, so warm und so leuchtend. Allein schon ihr eigenes Atmen und das Pochen ihres Herzens schienen die Stille zu stören. Ganz stark fühlte sie sich, und sie fühlte sich unheimlich stark, als sie seine Hand los ließ und die ersten Schwimmzüge machte. Es war einfach herrlich, durch das Wasser zu gleiten und der untergehenden Sonne ein Stück entgegen zu schwimmen. Marie genoss das alles, vergaß dabei Zeit und Raum und konzentrierte sich nur auf das Schwimmen und auf das, was um sie herum war. Sie war sehr stolz auf sich, als sie sich nach einiger Zeit das erstemal umblickte. Und da sah sie Hänschen, der gerade die letzten Schritte zum Ufer zurücklegte, sein Handtuch nahm und sich bereits anzog, während sie noch zurück schwamm.
Als sie sich abtrocknete, stand er wartend neben ihr. Und doch hatte sie den Eindruck, er wäre meilenweit von ihr entfernt. Kein Wort zwischen ihnen, kein Händchenhalten, kein Laufen und Lachen auf dem Nachhauseweg und nur ein ausweichender Blick beim Abschied.
Es war damit der letzte Blick, den Hänschen Marie schenkte.
Es war vorbei.
Marie hatte Schwimmen gelernt ...
Kommentare (6)
das ist eine "tiefer gehende " Geschichte....sehr identisch geschrieben....
ich denke, Hänschen hat es symbolisch "verletzt", dass Mariechen von ihm fortgeschwommen ist.....(sich entfernt hat von ihm?)
Mit Gruß von ladybird
...wie traurig alles, lieber Ernu aber wie oft wurde einem Jungen gesagt...heule nicht, sei stark, Gefühle sind Weiberkram u.v.m...
Die Folgen solcher Erziehung kann man wohl auch heute noch zig fach sehen. Männer, die nicht lieben können, garnicht wissen, was das überhaupt ist, wenn man Gefühle zulässt und sie leben kann, ohne sich zu schämen.
Zum Glück ist heute dann doch vieles anders - auch Jungs und nachher Männer dürfen - nein sie sollten - unbedingt auch mal "schwach" sein !
Gut, dass du auf einem guten Weg bist, dein Leben zu verändern und Gefühle zu zulassen !
Kristine
@ladybird
Tatsächlich ist es "meine" Geschichte. Und durch mich ist aus Hänschen dann Hans geworden ;-)
...schade eigentlich, dass Hänschen nicht den Mut hatte, auch schwimmen zu lernen...warum aber, war diese, ganz zarte Liebe eigentlich mit einem Schlag vorbei...nur am Schwimmerfolg von Mariechen konnte es kaum gelegen haben...
Kristine
@werderanerin
Er hätte nie so schwimmen können wie Marie. Denn er hat sie nicht "erkannt" – nicht gesehen, wie achtsam sie mit ihm umgegangen ist.
Ladybird hat eine Zugabe erbeten – nachdem ich ihr erzählte, dass es eine Fortsetzung gibt. Hier ist sie nun:
Hans
Hans war zurückgekehrt an die Stätten seiner Jugend. Es war ein lautes Wiedersehen mit seinen Freunden im "Catharinenberg". Viel Bier, ein paar Braune, Schulterklopfen und markige Sprüche: "Ja, wir waren Helden damals", grinste er in sich hinein.
Horst sah man das gute Leben an, seine Leibesfülle stand seiner Größe in nichts nach, und mit seiner lauten, polterigen Stimme beherrschte er den Raum. Siggi saß wie eh und je mit einem Sportanzug und schon leicht glänzenden Augen dabei. Auch Herman war da, ehemals der Eitelste von ihnen und Joe genannt wegen seiner Cowboystiefel; lange Haare hatte er damals, heute waren sie fast alle weg und schon ziemlich grau. Martina, gerade – wie Thomas ihm allwissend verriet – das dritte Mal geschieden, kicherte inmitten der Männer vor sich hin. Und Charlie, der Dorfsheriff, hatte sich zu seinen Lausbuben dazugesellt. Dafür fehlte Peter, der Initiator so manchen früheren Stiefeltrinkens. Und Marie war nicht dabei, deren Bild Hans immer noch in sich trug. Er hatte sie nie vergessen.
Es war ein lautes Stimmengewirr um ihn herum, und der Alkohol ließ ihn leicht schwindeln. Er brauchte Luft und trat vor die Tür, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Aufatmendes Seufzen, als er dann davor stand. So lehnte er sich an die Wand des Hauses, im Blick die alte Schule und das alte Feuerwehrgerätehaus. Doch die auf der alten Bundesstraße vorbeibrausenden Autos machten ihn nicht ruhiger. So begann er zu gehen und seine Schritte bergab zu richten – so wie früher, als er hier mit dem Fahrrad hinabraste, um schnell "ihre" Bank am Molfsee zu erreichen.
Vor dreißig Jahren hatte er das Dorf verlassen. Gegen den Widerstand seiner Eltern, wider das Bitten seiner Freunde. Heute wusste er, dass es eine Flucht war, damals. Eine Flucht vor sich selbst, vor seiner Angst und vor seinen Gefühlen.
Er dachte an Marie, die damals Auslöser dieser Flucht war. Er war enttäuscht gewesen, fühlte sich im Stich gelassen. Zorn und Trauer spürte er jedes Mal, wenn er ihr damals noch begegnete, obwohl er sich bemühte, ihr aus dem Weg zu gehen. Und niemals mehr hatte sie ihn direkt angeschaut. Ob sie ihn für einen Feigling gehalten hatte? Gern hätte er sie damals gehasst für ihr Verhalten und gewusst, ob sein späterer Weggang schmerzhaft für sie gewesen wäre.
"Kinderkram" schalt er sich selbst, innerlich lächelnd. Denn wie sich später herausstellte, war nicht Marie der Grund für den Knick in seinem Weg, sondern nur der Anlass dafür. Erst Jahre später kam er der Ursache auf die Spur – seiner Behinderung, die ihn im Denken und Fühlen oft in die Irre führte: "Männer weinen nicht". Eine Behinderung, die für ihn Lebensregel wurde und die er selbst fantasievoll erweiterte. Männer lieben nicht, Männer freuen sich nicht, Männer trauern nicht, Männer haben keine Angst, Männer kennen keine Schwäche... Ein harter Kerl wollte er werden, ein starker Mann, ein scharfer Hund – so, wie Männer halt sind. Doch stets stieß er dabei an Grenzen, die er einfach nicht überschreiten konnte. Die Befolgung seiner Regel bescherte ihm stets Verluste und schränkte ihn ein.
Erst vor zehn Jahren spürte er, dass es so nicht weitergehen konnte. Er brauchte fünf Jahre, bis er das Weinen gelernt hatte. Eine harte Zeit, in der er sehr viel über seine Angst erfuhr, über deren Stärke und darüber, nicht gegen sie anzukämpfen, sondern sie wie jedes andere Gefühl anzunehmen, ernst zu nehmen. Als er dann endlich weinen konnte, weinte er um Marie gleich mit.
Nein, Marie war nicht der Knick in seinem Leben, sondern ein früher Eingang, der in das Tal der Tränen führte. Es war gut, ihr begegnet zu sein. Was sie heute wohl tat? Niemand der alten Freunde hatte von ihr gesprochen ...
Hans hatte die alte Dorfstraße erreicht, die am See entlang führte. Sinnierend blieb er stehen. Sollte er zurückkehren in die verräucherte, lärmende Gaststube mit den fröhlichen Menschen oder ganz hinüber gehen, zu ihrer alten Bank, um ein wenig auszuruhen?
Er hörte das ferne Kreischen der Vögel von der Vogelinsel, und während er noch überlegte, wanderte sein Blick hinüber über den Uferrasen bis zu der Bank, die nah am Ufer stand. Dort saß schon jemand. Eine Frau, die ihn in ihrer versonnenen Sitzhaltung an jemanden erinnerte. Sie trug ein gelbes Halstuch, das einen bunten Kontrast zu ihrem kastanienbraunen Haar setzte und ihn stark an Marie erinnerte.
"Dummbatz" schimpfte er sich selbst und begann, über sich zu lachen. Und im Kopfschütteln über sich selbst drehte er sich um und trat den Rückweg an.