Glauben oder nicht?
Glauben oder nicht?
Die Klopftöne über mir waren inzwischen auch verstummt. Na sicher, jeder hatte jetzt mit sich selbst zu tun, musste mit dem eigenen Ich ins Reine kommen. Und das ist schon im normalen Dasein schwer genug. Auch meine Seele war müde geworden, entsetzlich müde, so wie der ganze Körper sich nach Schlaf sehnte. Moment mal, schlafen? Die Gedanken fuhren schon wieder Achterbahn! Wenn ich nicht mehr aufwachte, was war dann? Wenn mich jemand rief und er würde keine Antwort erhalten? Dann wüsste ja niemand, dass ich noch lebte! Nein, also schlafen ging jetzt gar nicht! Unmöglich, kommt gar nicht in Frage, schlafen geht nicht …
Ich erwachte danach aus einem Traum, den ich nicht mehr wiedergeben konnte. Ein nervtötender Traum, ohne Inhalt. Das geschah oft, Träume behielt ich selten in der Erinnerung, mochten sie noch so grausam oder vielleicht wunderschön sein. Aber dieser Ton, was war das für ein Ton? War der immer noch da, der Ton aus meinem Traum? Hell, sirrend, durch Mark und Bein dringend. Ein Ton, der zwar leise, aber dennoch die Ohren ungebremst erreicht! Gehört der nun noch zum Traum, dieser leidige Ton? Ich wusste es nicht mehr, war ich nun wach, schlief ich noch, träumte ich? Verzweifelt suchte ich in der Dunkelheit meine Trinkflasche. Fand sie auch, leer.
Natürlich leer, die wunderbare Vermehrung hatte also doch nicht stattgefunden. Die Zunge klebte am Gaumen wie ein Fremdkörper. Enttäuscht warf ich die leere Flasche weit weg. Das Ding aus Aluminium kam umgehend wieder zu mir zurückgeflogen. Schien sehr anhänglich zu sein. Na, hatte auch nicht allzu viel Platz in meiner Kemenate.
Dann fiel mir plötzlich ein saudummes Lied ein, dass ich in jüngeren Jahren mit meinen Freunden nach einer durchzechten Nacht mit ziemlicher Lautstärke gegröhlt hatte: »Durst ist schlimmer als Heimweh.«
Welch ein banaler Quatsch, ich möchte mich heute dafür ohrfeigen! Was war denn damals Durst? Das Verlangen nach Bier, das Beanspruchen von jugendlicher Wichtigtuerei. Jeder wollte sich aufspielen, als bedeutungsvoller Mensch vor allen anderen dastehen. Der Gruppenzwang war ungeheuer stark, nie konnte sich dem jemand entziehen, der dazugehören wollte. Das sollte Durst gewesen sein? Lächerlich! Hatte ich jemals in Erwägung gezogen, wirklich einmal Durst zu haben? Bestimmt nicht, die Möglichkeit dazu war verschwindend gering.
Wie leicht sagt sich so etwas: Ich habe Durst! Jetzt, in diesem schwarzen Moment der Stille, hatte ich Durst. Es war ein Gefühl, als wenn die Zunge sich im Rachen verirrt hatte, sich festsaugte an Gaumen und Lippen und nicht mehr frei werden konnte. Was würde ich für einen Schluck Wasser geben. Meine Gedanken wanderten weiter: Was würde ich wirklich dafür gegeben? Ich legte mich lang auf die Kohle, schloss die Augen, versuchte dabei nachzudenken. Würdest du ein Jahr deines Lebens für eine Flasche Wasser geben, Horst? Ja, sicher, oder ist das zu viel?
Der ungebremste Luftzug aus der Pressluftleitung ließ mich erschauern. Ich versuchte, mich in eine andere Lage zu manövrieren. Viel Auswahl hatte ich ja nicht, aber es gelang mir dann letztlich immer wieder, eine neue Stellung einzunehmen.
Da war er wieder, dieser helle Ton! Ein unmögliches Geräusch, es störte mich in meinem Nachsinnen. Was konnte das nur sein? Irgendwie undefinierbar, es klang wie die Mücken am nächtlichen Rhein-Herne-Kanal, die Ursula und mich immer dann störten, wenn es gerade angenehm und zärtlich wurde.
Ach Ursula - wie oft hatte ich an sie gedacht. ›Was wäre - wenn ich hier nicht mehr rauskomme - würdest du dann um mich weinen, Ursula? Oder wäre es nur ein Gefühl für dich? Vorbei ist vorbei, es war schön, aber es war?’
Urplötzlich riss mich ein Getrommel auf der Rohrleitung aus meinen schönen Träumen! Die Kumpel über mir verursachten einen Wettbewerb an dumpf-dröhnenden Lauten. »Klopf-Klopf-Klopf-Klopf. --Klopf-Klopf-Klopf-Klopf«.
Plötzlich war ich wieder voll da, alle Schläfrigkeit verflogen, alle Träume ins Abseits gestellt; Durst und Hunger waren wie weggeblasen. Ich schlug nun ebenfalls meine Signale auf das Rohr. Ich hatte es begriffen, dieses helle Geräusch, das mich störte, das ich verwünscht hatte: Es waren die Bohrer, mit denen die Grubenwehr sich Zugang zum Strebbruch verschaffte! Eine wundervolle Sinfonie an Tönen, die ich mit allen Sinnen aufnahm!
Es war unglaublich, kaum zu fassen: Sie kamen! Sie ließen uns hier nicht verrecken! Ich heulte wie ein kleines Kind. Also gab es doch Wunder, gestern oder wann es war, hatte ich es noch leichtfertig zurückgewiesen:
›Wenn ich hier wieder lebend herauskomme,
will ich gern an Wunder glauben.‹
Ich versuchte zu beten. Es wurde eine stille Zwiesprache mit dem, dessen Existenz ich so oft negiert hatte. Was sagt man dem, der ja angeblich nicht da ist? Irgendwelche Worte, Bruchstücke aus der Erinnerung hervorgeholt, Vokabeln - ach, wer weiss in solch einer Situation wirklich, was er sagt? Reicht nicht schon ein ›Danke-schön‹? Es kommt doch nicht auf bestimmte Worte an. Glaubte ich nun an Wunder? Nein, aber so ganz sicher war ich mir nicht ...
©by H.C.G.Lux
Kommentare (8)
Danke, lieber Ferdinand,
da dies ein Kapitel meines Buches ist, darf ich leider aus
rechtlichen Gründen nicht mehr veröffentlichen.
A ber letztlich ging alles gut aus - ich lebe noch, you know?
Ich wünsche Dir einen Wunderschönen Sonntag -🌈
Horst
Ich bin überrascht, dass meine biografischen Episoden, die aus meinen Tagebuch-Rudimenten
hervorgegangen sind, doch noch Anklang finden.
Ein schlauer Kopf sagte einmal:
»Alt ist man dann, wenn man an der Vergangenheit mehr Freude als an der Zukunft hat!«
Nun, das ist solch ein bissiger Ausspruch, der eventuell manches Mal seine Berechtigung hat.
Ich allerdings möchte mir dieses Bonmot doch nicht zu neigen machen, dazu hänge ich noch
zu sehr an Gegenwart und Zukunft. Mag ja später [wenn ich 100 bin], einmal zutreffen, aber
heute daran zu denken, ist für mich nur lachhaft.
Ich schrieb die biografischen Kapitel meines Buches, (die bereits 1938 beginnen) eigentlich nur,
damit meine KInder aus erster Hand erfahren, wie es wirklich war. Fast alle der prominenten
Geschichtsschreiber erzählen - sicher gut recherchiert - aus zweiter Hand!
Ich war dabei, auch in der "braunen Zeit", und berichte, so es möglich ist, neutral.
Das ist oft schwer, natürlich, da eigene Ressentiments unterdrückt werden müssen.
Ich habe es versucht, ob es immer gelungen ist, kann ich nicht beantworten ...
Ich bedanke mich aber - und das kann ich beantworten - herzlich!
Horst
Hallo Horst, ich kann nur noch einmal schreiben, Deine Geschichte hat mich gefesselt. Realistisch und voller Spannung geschrieben. Ich wünsche Dir mit dem Buch auf alle Fälle viel Erfolg.
Einen lieben Gruß Klaus
Auch in der absoluten Dunkelheit sieht das Herz das einzig Wichtige, das Unaussprechliche, für das es keine Worte gibt, nur das gefühlte grenzenlose Danke.-
Derart Wissende sind angekommen...
Syrdal
Die beiden Teile habe ich beeindruckt gelesen. Obwohl bewußt, dass es gut enden wird, konnte ich stellenweise kaum atmen. Du fragst im Beitragstitel, lieber Horst: Glauben oder nicht? Ich kenne nur meine Antwort darauf...
Mit besten Grüßen
Christine
Eindrucksvoll geschildert, man kann es fast miterleben, auch ohne spezifische Erfahrungen und Kenntnisse.
Mit Spannung habe ich die Fortsetzung deiner Geschichte, lieber Horst, erwartet.
So eine Situation bringt wirklich an die Grenze. Im Dunkeln, ganz allein auf sich gestellt, was einem da doch für merkwürdige Gedanken kommen. Wie schon beim ersten Teil hat sich die Beklemmung und die Angst, da war doch auch Angst dabei?, auf mich übertragen. Ich habe mich so gut da hineindenken können, weil du es so plastisch beschrieben hast. Und auf einmal kann Hoffnung auf Rettung entstehen. Es ist unglaublich, was du damals erlebt hast. Ich kann mir vorstellen, dass so ein Erlebnis auf Dauer prägt.
Danke für das Erzählen dieser, deiner wahren Geschichte.
Herzliche Grüße
Brigitte
Wahres erlebtes kann so spannend sein, wenngleich es wohl nur annähernd der Situation des Erlebten nahe kommt, da es jetzt doch mit einem gewissen Abstand nicht annähernd die Tragödie solch schlimmer Momente, Stunden und womöglich auch Tage wiederspiegeln kann, nicht wissend, wie es tatsächlich ausgeht.
Danke für Deine Fortsetzung erwarte ich schon etwas ungeduldig, wie es weitergegangen ist!
Lieben Gruß
Ferdinand