Geschwister auf Lebenszeit
Heute hat er das erste Mal zu ihr gesagt: „Danke, dass Du da warst.“
Als sie klein waren, haben sie richtigen Sandkuchen gebacken, so richtig mit Eiern, Sand und Backpulver. Die Mutter hat aber wegen der Eier im Sand mit dem Kochlöffel gedroht, aber ihren achtjährigen Kinderpopo nicht getroffen. Es war seine Idee, die vielen Eier aus dem Hühnerstall zu holen. Es interessierte die Mutter aber nicht, denn der Bruder war drei Jahre jünger und galt immer als unschuldig.
Als es das erste Mal Familienurlaub gab, war es September und sie musste zu Hause bleiben, weil sie schon in der Schule war. Auch beim zweiten Urlaub im Mai.
Worte wie Lieblingssohn, Goldjunge, Stammhalter für den bäuerlichen Hof... solche Worte fielen ihr erst viel später ein.
Und als er 16 war, wurden ihm nicht nur die Frühstücksbrote gut verpackt in die Schultasche gelegt, nein, als er aus dem Bett kam, waren die Marmeladenstullen beide geschmiert und Milch in der Tasse.
„Die Frau, die Dich mal heiratet, die kann mir jetzt schon leidtun“, hatte sie ihn irgendwann einmal in jugendlicher Wut angeschrien.
So kam es, dass sich das Verhältnis der Geschwister zueinander immer mehr verlor. Eines Tages fuhren sie mit dem Rad aneinander vorbei wie Fremde. Bald hatten sie gar keine Beziehung mehr zueinander, das war schlimmer als eine schlechte.
Später dann hatte er tatsächlich eine nette Frau gefunden.
Als sein 18-jähriger Sohn einmal ein altes reparierbedürftiges Motorrad nach Hause brachte, hat die Mama mit geschraubt und montiert, nicht er, der Papa mit einer Kfz-Berufsausbildung. Er hat Pascha gespielt, bis ihn die Scheidung ernüchterte. Dann war sogar sein jahrelanges Extrafach im Kühlschrank mit den 6 verschiedenen Marmeladen nicht mehr Ursache familiärer Streitigkeiten.
Als die Halluzinationen begannen, hat Fanny, seine Tochter , welche im nahe gelegenen Krankenhaus arbeitete, täglich bei ihm vorbei geschaut, nach dem Rechten gesehen und ihm seine Medikamente verabreicht.
Aber Fanny starb bei einem tragischen Autounfall auf dem Weg aus der Nachtschicht . So kam er wieder zurück. Zu seinen Eltern und auch zu ihr, der Schwester. Nach Hause.
Zeitweise völlig normal wirkend im Verhalten, nur wenn "sie" ihn wieder umbringen wollten oder wenn sie das Haus anzünden wollten, wenn er nicht Geld an "sie" bezahlt, dann wussten alle, dass er krank ist. Jeder epileptische Anfall zerstörte eine Nervenzelle nach der anderen. Medikamente schafften teilweise Abhilfe und im Behindertenzentrum der Stadt war er wirklich gut aufgehoben.
Sie fuhr regelmäßig ihn besuchen , ordnete all seine geschäftlichen Belange und heute hat er seit fast 60 Jahren das erste Mal diesen Satz gesagt.
Danke, dass Du da warst.
by Maritt
Kommentare (7)
Ja Seija, so denke ich jetzt auch. Das war aber nicht immer so.
Und ich bin froh, dass ich ihm irgendwann verzeihen konnte.
Er hatte ja leider niemanden mehr.
Ganz schlimm wäre es gewesen, wenn Familienanchmittage im Heim waren.
So war ich eben seine Familie.
Mein Bruder ist vor ein paar Monaten leider auch tragisch verstorben.
Und ich bin froh, noch für ihn dagewesen zu sein.
Herzlichst
Maritt
Ersatzmutter auf Lebenszeit - nein, das wollte ich für meine 10 Jahre jüngere Schwägerin nie sein.
Ich lernte sie kennen, da war sie gerade neun Jahre alt geworden, hing sich emotional an die Freundin ihres großen Bruders, weil ihre Mutter für viele Jahre bis zu ihrem Tod in die Geriatrie verschwand. Ich war für sie da, als aus dem kleinen Mädchen ein Teenager wurde, sie langsam zur Frau heranreifte. Später gingen wir dann beide eigene Wege, doch sie fand sich immer wieder bei mir ein.
Als ich meinen 60. Geburtstag feierte, bekam ich einen langen "Glückwunschbrief", in dem sie hauptsächlich mein für sie "Mutter sein" aus Kindertagen erneut einforderte. DAS war für mich doch ein Erlebnis, das unser zu der Zeit noch freundschaftliches Verhältnis in ein unerträgliches verwandelte.
Ich vermute, den Satz, den Du, liebe Maritt, den Bruder seiner Schwester sagen ließest, werde ich wohl nicht mehr zu hören bekommen.
In meinem Fall hätte Einiges anders laufen müssen. Ein langes Eheleben, gespeist mit ständigem Umsorgen der Schwiegermutter, muss nicht darin enden, danach auch noch "lebenslänglich" für deren - ebenfalls kranke Tochter - zu sorgen, wenn man selbst so langsam an seine Grenzen stößt.
Deine Geschichte gefällt mir dennoch sehr ...
Herzlichen Gruß
Uschi
Liebe Uschi,
ja, so hat ein jeder von uns seine Geschichte und man muss eben selbst entscheiden, wie man sich in der Familie zu wem verhält.
Schließlich hat man auch sein eigenes Leben und niemandem nützt es, wenn man sich zu sehr aufopfert.
Danke für Deine Worte.
Maritt
Wenn ich zu dieser „Lebensgeschichte“ einen Kommentar schreibe, wird dieser vielleicht nur fragend aufgenommen. Sei es drum:
Wie sehr muss dieser Mann ein Leben lang an innerer Zerrissenheit gelitten haben, bis er die ihn endlich bis in die Seele hinein zutiefst befreienden Worte über die Lippen brachte: Danke, dass Du da warst...
Das ist wie endlich finden... ankommen!
Nachdenklich...
Syrdal
Hallo Syrdal,
so mit deiner Sichtweise habe ich meinen Bruder selbst noch nicht gesehen.
Ich habe früher immer nur gedacht, er ist verzogen, arrogant und anmaßend.
Danke auh Dir für Deinen Kommentar.
Maritt
Ich danke Dir sehr dafür, dass ich das lesen durfte. Wunderbar geschrieben und auch gefühlt.
Herzliche Grüße
Brita mit einem t
Geschwister auf Lebenszeit - das ist so und auch gut so - wie ich finde!
Wir sollten füreinander da sein - ohne Selbstaufgabe.
Ich habe 5 Schwestern und bei uns ist das so. Die zwei jüngsten Geschwister
hatten es im Leben am Schwersten, weil sie so verwöhnt wurden.
Sie lernten erst spät Verantwortung für ihr "Leben" zu übernehmen.
Aber wir waren für sie da und halfen in schwierigen Situationen.
Wir Schwestern sind nicht wesensgleich, wurden zum Teil unterschiedlich
von der Mutter behandelt - und doch - wir halten zusammen.
Ich denke durch die maßlose Verwöhnung wurde Dein Bruder
in frühester Kindheit misshandelt mit schlimmen Folgen.
Wenn es eine wahre Geschichte ist, kann ich nur sagen, schön dass Du ihn besuchst
und schön, dass er diese Worte sagte.
Seija