die Pißnelke und Omama


...es war nach dem großen Luftangriff in Dessau und wir machten uns auf den Weg um nach den anderen Großeltern zu suchen. Wie Opa berichtete, war die Innenstadt völlig zerstört und auch die Straße, in der Omama und Opapa wohnten, war völlig platt. Opa dachte, sie könnten eventuell bei uns sein. Sie tauchten auch in den folgenden Tagen nicht auf und wir machten uns Sorgen, nahmen das Fahrrad und Mutti radelte gen Stadt. Je näher wir kamen, umso dichter wurde der Qualm. Es war Nordost-Wind. Aha, wir fahren die Südstrecke durch den Tiergarten. HIerzu mußten wir aber über die Mulde, dort angekommen - die Brücke gab es nicht mehr, das Fährhäuschen stand noch, war aber verlassen. Also doch durch den Qualm und wieder zurück auf Neuanfang. Wir sahen noch intakte Häuser stehen und fuhren weiter. Je näher wir dem Stadtkern kamen, umso schwerer wurde das Durchkommen durch die Trümmer und eingestürzten Häusern, Flammen schlugen aus Fenstern und Türen und aufgeregte Menschen rannten und rafften Utensilien zusammen - es war ein Geschreie und Gerenne. Irgendwann standen wir nur noch vor Trümmerbergen, es war kein Durchkommen mehr. Wo gibt es noch einen Schleichweg? Zum Schloß, zum Kavalliersgarten. Wir kämpften uns durch, das Fahrrad hinterher schleifend und erkannten eine halbe Schloßkirche und ein völlig ausgebranntes Schloß in Trümmern zerlegt. Der Kavalliersgarten sah relativ trümmerfrei aus und dorthin kletterten wir. Die Schloßmauer gab es auch nur noch stückweise, aber der Eingangsbogen mit offenen schmiedeeisernem Tor, den gab es noch. Und dort stand sie: die rosarote Pißnelke in der Hand von Omama. Sie stand einfach da und starrte in den Himmel mit der Blume in der Hand. Ich stürzte auf sie zu, sie vernahm es nicht, Mutti umarmte sie, sie merkte nichts, ich nahm sie bei der Hand und zog sie mit uns mit. Sie lief einfach und sprach kein Wort und wir liefen zu uns nach Hause. Omama stieg die Treppen rauf, zog ihren zerrissenen Mantel aus, setzte sich auf den Küchenstuhl und sagte: "ach ja, eine Vase für die Pißnelke". Dann schwieg sie wieder für etliche Tage. In unseren Augen standen nur Fragezeichen. Opapa blieb weiterhin verschwunden und Opa berichtete, daß beide unter dem Haus verschüttet waren, sich aber befreien konnten und irgendwo hingelaufen wären. Mehr Information gab es nicht. Omama ließ sich ganz fromm führen, wenn man sie an die Hand nahm. Sie aß, legte sich auch aufs Bett, aber zog sich nie aus. Bei Fliegeralarm nahm sie ihr Handtäschchen und ging mit mir in den Luftschutzkeller. Sie verrichtete alle normalen Dinge des Lebens ganz automatisch. Ich führte sie zum Klo, welches im Hofbereich lag und sie ging auch brav wieder mit in die Wohnung. Mutti sagte immer zu mir: rede mit ihr, aber frage nichts. Nach unendlichen Tagen kamen wieder Worte über ihre Lippen. Es waren nur Fragen, die ich nicht beantworten konnte und Mutti über mich Antworten gab. Und eines Tages stand Opapa vor der Tür und Omama wachte aus ihrer "Ohnmacht" auf und fortan redete sie nur noch. Und wir erfuhren auch das Geheimnis der "Pißnelke" im März.
Sie hatte in die Welt zurück gefunden, die Omama.
dat Finchen

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Kommentare (5)

Traute Habe die Pechnelke(Pissnelke) gefunden.
Sie hatte auch den Namen, aus dem Grunde, weil man mit einem Aufguß aus den Blüten und Stängeln, die Pflanzen und Gemüse vor Schädlingen bewahren konnte wenn man sie damit begoss.
L.G.
Traute(Traute)


Traute Ein botanisch korrekter Name ist es nicht, es ist eine Volksmund Bezeichnung.
Wenn jemand nicht geeignet war für seine Aufgaben, (meistens Frauen), dann gab man den herabsetzend gemeinten Namen auch weiter, leider.
Liebe Grüße,
Traute
P.S. Wenn ich im Sommer eine sehe werde ich sie fotografieren.
koala Ich werde die wilde Nelke sicher nicht mehr in Natura sehen. Weiss aber nun, dass es sie wirklich gibt und nicht nur als Schimpfwort.
LG Anita/Australien
Traute Die Pißnelke ist eine Nelke, die wild wächst und so wenig Blütenblätter besitzt, als hätte ein Geizhals eine Nelke machen wollen. sie hat ein blasses, rötliches,Lila und wächst auf Wiesen die man in Ruhe lässt.
Danke Finchen, das was Du bei Deiner Omama erlebt hast, konnte ich auch nach den schweren Kämpfen in Ostpreußen erleben. Scheinbar hat die Natur im Menschen einen Sicherheitsschalter eingebaut, der anspringt, wenn es einfach unerträglich wird und man funktioniert nur noch.
Der Vater meiner Mutter, hatte ein ähnliches Verhalten nach einer fürchterlichen Bomben und Angriffsnacht mit Katjuschas und Panzern. Mann war einfach über getötete Flüchtlinge gefahren, sie waren nur noch Farben auf dem Wege, so platt hatte man sie gedrückt.Ich habe es damals noch nicht begriffen, das schaudern kam erst aus der Erinnerung.
Mit dem Aufschreiben und Mitteilen arbeiten wir das ab, was sonst unsere Seele zerstört.
Ganz liebe Grüße,
Traute
koala Ich kann keine Geschichten ueber den Krieg lesen, weil mir dann das Wasser in die Augen steigt. Aber wegen der "Pissnelke" musste ich da durch.
Nun verrate mir doch mal, wie eine Pissnelke aussieht. Ich kenne das Wort nur als Schimpfwort.
Mein Schwiegervater hatte seine Sekretaerin einmal hinter vorgehaltener Hand so genannt. Aber sie hatte es gehoert und er brauchte alle Ueberredungskunst, um sie zu besaenftigen.
LG Anita

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