Der Ladendieb
Kurz vor dem Supermarkt wäre er beinahe umgekehrt, denn abgesehen davon, dass heute Freitag, der 13. war und dass sein Spiegel zu Bruch gegangen war, lief ihm nun zu allem Überfluss auch noch eine schwarze Katze über den Weg.
Zum Ausgleich versuchte er im Stadtpark ein vierblätteriges Kleeblatt oder wenigstens einen Marienkäfer zu finden. Beides misslang ihm, denn es mangelte ihm an der nötigen Geduld, was in Anbetracht seines knurrenden Magens auch menschlich verständlich war.
Unter normalen Umständen hätte er spätestens jetzt von seinem Vorhaben abgelassen, denn es konnte eigentlich nur misslingen, aber der inzwischen unmäßige Hunger sorgte dafür, dass er seine Bedenken verwarf und seinen Plan trotz aller schlechten Vorzeichen unverzüglich in die Tat umsetzte.
Beim Supermarkt angekommen, verzichtete er auf einen Einkaufswagen, denn er wollte sich schließlich nur im Geschäft satt essen. Dafür brauchte er keinen Wagen, für dessen Entsperrung ihm ohnehin die notwendige Münze fehlte. Zu seinem maßlosen Entsetzen waren ausgerechnet in diesem Moment Handwerker damit beschäftigt, über dem Eingang eine neue Leuchtreklame anzubringen. Dazu hatten sie eine Leiter aufgestellt, unter der die Kunden hindurchgehen mussten, um in den Laden zu gelangen. Reinhardt war verzweifelt, denn das war der nächste Unglücksbringer. Wäre er nicht schon so gut wie verhungert gewesen, er wäre niemals unter einer Leiter hindurchgegangen. Heute aber warf er alle Vorsicht über den Haufen und handelte im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Bauch heraus.
Drinnen nahm er zufrieden zur Kenntnis, dass der Laden fast leer war. So konnte er davon ausgehen, dass er bei seiner Nahrungsaufnahme nicht gestört werden würde.
Um die Abteilung mit den alkoholischen Getränken machte er einen großen Bogen, denn davon hatte er erst einmal genug. Vielmehr schnappte er sich eine mittelgroße Flasche Cola, die er sofort öffnete und gierig zur Hälfte leerte, bis sein Magen von der Kohlensäure zu platzen drohte. Auf diese Weise hoffte er auf die Schnelle sein Koffeindefizit auszugleichen. In der Backwarenabteilung holte er sich eins von den zähen Brötchen, dann ging er weiter zum Kühlregal, dem er ein Päckchen Bierschinken entnahm.
Zwischen Tierfutter und Toilettenpapier fand er ein ruhiges und wie er meinte unbeobachtetes Plätzchen. Dort setzte er sich auf einen Stapel Hundefutterdosen und riss zuerst die Wurstverpackung auf. Dann steckte er sich genüsslich zwei Scheiben Bierschinken auf einmal in den Mund. Ah, das tat gut! Nun biss er ein Stück vom Brötchen ab und kaute das Ganze hastig herunter. Endlich hatte sein Magen etwas zu tun. Er bereute zwar, sein Pendel nicht dabei zu haben, das er gewöhnlich verwendete, um die Verträglichkeit der Nahrungsmittel zu testen, aber dies war ein Notfall, da musste es ausnahmsweise auch mal ohne gehen.
Um es richtig gemütlich zu haben, schlug er die mitgebrachte Zeitung auf und begann darin zu lesen.
Kaum hatte er damit begonnen, waren die nächsten zwei Wurstscheiben in seinem Mund verschwunden und sein zweiter Biss vom Brötchen stand bevor, da kam ein Angestellter des Supermarktes um die Ecke und stürzte sich sofort auf Reinhardt, dem vor Schreck lautstark die Kohlensäure aus dem Magen entwich. Zu seinem großen Ärger wurde ihm sofort das Diebesgut weggenommen, bevor er in das Büro des Marktleiters abgeführt wurde. Er hätte gerne noch weitergegessen.
Der Versuch, sich auf Mundraub zu berufen, scheiterte kläglich. Reinhardt musste zur Kenntnis nehmen, dass seine diesbezüglichen Informationen falsch waren, denn aus juristischer Sicht gab es keinen Mundraub. Was er getan hatte, war ganz schnöder Ladendiebstahl, der entsprechend geahndet würde. Zu allem Überfluss und völlig zu Unrecht legte man ihm auch noch zur Last, die EILZEIT ebenfalls in diesem Supermarkt gestohlen zu haben. Natürlich konnte er nicht zu seiner Verteidigung anführen, dass er sie woanders geklaut hatte. So kam die auch noch auf sein Schuldkonto beim Supermarkt.
Da er weder die Ware noch die obligatorische Bearbeitungsgebühr bezahlen konnte, aber stattdessen herumpöbelte und randalierte, wurde kurzerhand die Polizei gerufen.
Bevor Reinhardt von den beiden Polizeibeamten abgeführt wurde, erteilte ihm der Marktleiter ein Hausverbot für diesen Supermarkt, was der Delinquent mit weiteren unqualifizierten Äußerungen quittierte.
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich diesen Saftladen jemals wieder betreten werde. Ihre Brötchen sind zäh wie Leder, der Bierschinken ist vergammelt und die Cola ist warm, davon wird einem ja schlecht. Außerdem ist Ihr Umgang mit der Kundschaft unter aller Sau!“
Aus dem Buch "Die Besserwisser von Isoland" von Wilfried Hildebrandt
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