Das Mädchen und das Velo (Fahrrad)
Ein Mädchen, schüchtern und aufmerksam beobachtend, lebte erst alleine mit seiner Mutter, wie wir bereits wissen. Der Partner wohnte zu dem Zeitpunkt noch nicht bei den Beiden, sondern unter dem Dach eines älteren Hauses in einer Mansarde. Er besuchte jedoch die Mutter des Mädchens jeden Tag und verschwand nur zum Schlafen in seine Mansarde, mit dem Fahrrad etwa 15 Min. entfernt.
Das Mädchen hatte den grossen Wunsch, das Velofahren zu lernen. In der Schweiz gibt es keine Fahrräder, sondern Velos. Eines Tages besuchte es zusammen mit seiner Mutter ihre Taufpatin, die ältere Schwester seiner Mutter. Sie wussten, dass die Patin ein unbenutztes Fahrrad besitzt und wollten sie fragen, ob sie es dem Mädchen zur Verfügung stellt, um das Radfahren zu lernen.
Hoch erfreut gingen das Mädchen und seine Mutter nach Hause und starteten am nächsten Tag die ersten Fahrversuche. Das klappte schon ganz gut und an einem der nächsten Tage begaben sich die Beiden an den Rhein, wo es eine Strasse gab mit sehr wenig bis keinen Verkehr und somit problemlos das Velofahren geübt werden konnte.
Bei wunderschönem Wetter und milden Temperaturen stieg das Mädchen mit grosser Begeisterung auf das von der Taufpatin geliehenen Velo und sauste schon ganz flott auf dieser Rheinstrasse hin und her, wackelte kaum noch mit dem Lenker und war ganz stolz, seiner Mutter zeigen zu können, wie schnell es das Velofahren gelernt hat.
Die Mutter und das Mädchen machten eine längere Pause und ruhten sich auf einer Bank aus. Auf dem Rhein fuhr gerade ein Frachtschiff Rhein aufwärts, als eine Frau auf dem Fahrrad vorbei radelte und ihre Sonnenbrille hob, um wohl das Frachtschiff auf dem Rhein besser sehen zu können. Einen Moment später realisierte das Mädchen, dass diese Radfahrerin mit der Sonnenbrille in der Gegenrichtung wieder vorbei fuhr.
Begeistert vom Radfahren beschloss das Mädchen, nochmals auf das Velo zu sitzen und die Strasse hin und her zu fahren, während seine Mutter weiter auf der Bank sitzen bleiben durfte und einfach nur zuschaute. Kaum war es beim Fahrrad, das am Randstein deponiert war, da stand plötzlich die Frau mit der Sonnenbrille vor ihr und begann fürchterlich mit dem Mädchen zu schimpfen und zwar über seine Mutter. Die Mutter sass ja immer noch auf der Bank, aber als sie realisierte, was gerade mit dem Mädchen passierte, stand sie unverzüglich auf und wehrte sich, dass die Frau das Mädchen sofort in Ruhe lassen solle. Es war ein Geschrei der beiden Frauen und plötzlich packte die Fremde die Mutter an den Haaren und schlug sie zu Boden. Entsetzt beobachtete das Mädchen, dass der Kopf seiner Mutter haarscharf an der Gehsteigkante vorbei schrammte. Das Mädchen schrie um das Leben seiner Mutter und um ihr eigenes, es schrie so laut, dass die Leute aufmerksam wurden und zum Ort der Prügelei liefen. Ein Motorradfahrer fuhr vorbei, entdeckte ebenso die kämpfenden Frauen, drehte wieder und kam zurück, erkundigte was hier denn gerade geschah und versuchte, die beiden Frauen auseinander zu bringen, was ihm auch gelang. Die Mutter hatte ein Blut überströmtes Gesicht und sah sehr mitgenommen und erschreckt aus. Die Frau mit der Sonnenbrille begab sich wieder zu ihrem Fahrrad und wollte sich aus dem Staub machen. Aber die Passanten stoppten sie und riefen die Polizei. Die kam, stellte ein paar Fragen, während das Mädchen immer noch am Heulen war und sich kaum beruhigen konnte. Die Polizei nahm alle drei Personen mit einem Auto auf den Polizeiposten inkl. der Fahrräder, wo die Mutter und danach die Frau mit der Sonnenbrille befragt wurden. Es handelte sich übrigens um die getrennte Ehefrau des Partners der Mutter.
Das Mädchen hat dieses Erlebnis nie vergessen, aber das Fahrradfahren hätte es um keinen Preis der Welt aufgegeben, denn das vermittelte ihr ein bisher unbekanntes Gefühl der Freiheit!
Jutta
Kommentare (6)
@U. Petri
Liebe Ursula,
Hab vielen Dank für deine einfühlsamen Worte!
Du hast recht mit "und es ist nicht mehr"! Mir scheint, dass das Mädchen trotz vieler Widrigkeiten, stets zum richtigen Moment Glück hatte, oder ein Schutzengel die Hände schützend über das Mädchen gehalten hatte.
Ich weiss, dass das Mädchen heute glücklich und zufrieden auf sein Leben zurückblickt.
behauptet Jutta
Als „schwaches“ Kind mit ansehen und erleben zu müssen, wie die eigene Mutter plötzlich schwer attackiert und sogar geschlagen und verletzt wird, ist ganz sicher überaus traumatisch und wird ein Leben lang nicht wieder vergessen. Das kann auch nicht durch die Freude über das geliehen Fahrrad kompensiert werden.
Dies gedanklich weiterführend muss man sich verdeutlichen, wie schrecklich all das ist, was Erwachsene zu allen Zeiten und auch heute noch Kindern überall in der Welt antun, auch hier bei uns in den ach so „zivilisierten“ Ländern. – Kinder sind doch die Schutzbefohlenen, sie sind doch angewiesen auf die uneingeschränkte Fürsorge der Eltern und Erwachsenen...
...mahnt mit Nachdruck
Syrdal
@Syrdal
Lieber Syrdal,
Für deinen mahnenden Beitrag danke ich dir sehr.
Ich gehe mit dir, dass zu allen Zeiten, gestern wie heute, Erwachsene den Kindern Schreckliches antun. Und leider tun oft diese Kinder als Erwachsene wiederum den Kindern Schreckliches weitergeben. Aber dies ist nicht die Regel, denn viele Kinder finden als Erwachsene doch den richtigen Weg und entwickeln ihre Vorstellung von friedlichem Leben, ob als Familie oder auch nicht.
Es grüsst dich
Jutta
Die Glückliche, dass sie aufs Radfahren nicht verzichten muss. :) Ich habe es aufgegeben, denn ich möchte meine Knie nicht dazu zwingen, was sie eindeutig nicht mehr mögen. Hoffentlich konnte sie auch diese Schreie vergessen; es ist ein ganz furchtbarer Ausdruck der Aggression.
Mit Grüßen
Christine
@Christine62laeche l
Liebe Christine,
Vielen Dank für deinen Kommentar.
So viel ich weiss, hat das Mädchen dieses Ereignis verkraftet. Aber es war wenigstens glücklich, das Radfahren gelernt zu haben, um diese Freiheit zwischen A und B in vollen Zügen zu geniessen können.
Liebe Grüsse von
Jutta
Die Geschichte beginnt mit: "Es war einmal"
man könnte weiter sprechen: "und ist nicht mehr"!
Bei dieser traurigen Begebenheit und auch all den
anderen Momenten, die belastend und bedrückend
waren in der Vergangenheit dieses Mädchens
muß ich an den Verlauf ganz vieler Märchen denken:
Der Anfang, oft die ganze Jungend, ist geprägt von
Not, von Zwang und von Demütigung, bevor die
Standhaftigkeit, die Hilfsbereitschaft oder das Glück
dem oder der Heldin zu einem guten Leben verhelfen.
Auch dieses Mädchen hat die Kraft, sich aus ihrem
belastenden Zustand zu lösen.
Hier fährt es weiter mit dem Rad und auch in anderen
Situationen zieht es seine Schlüsse und geht voller
Zähigkeit seinen Weg: es weiß, was es will!
Vielleicht wird sogar die Widerstandskraft gestärkt:
"egal, was ist, ich will und werde!"
Wenn das Geschick ihm auch noch eine positive Sicht
mit Humor geschenkt hat, so hat es alle Werkzeuge,
um ein gelungenes Leben zu führen.
Die Erfahrungen des eigenen Lebens werden ihm
ein offenes Ohr und Auge für die Probleme und Leiden
Anderer gegeben haben.
So ist es ein Gewinn, dieses Mädchen
kennen zu lernen.
meint Ursula