Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 arbeitete Lothars Vater in Westberlin bei der Bundesversicherung. Er hatte 1929 bei der Reichsversicherung angefangen und sich im Laufe der Jahre eine gute Position erarbeitet. Für alle stand fest, dass Lothar später ebenfalls bei dieser Behörde arbeiten würde. Als jedoch die Grenze geschlossen war, konnte Lothars Vater nicht mehr an seinen Arbeitsplatz und für Lothar war der Traum vom Beamten ausgeträumt. Die Haltung der Familie zur DDR und allem, was damit zusammenhing, wurde immer negativer.
Lothar glaubte daher nichts von dem, was die Lehrer zur aktuellen Politik sagten, denn es stimmte absolut nicht mit dem überein, was er zu Hause hörte. Deshalb widersprach er im Unterricht häufig leise und manchmal laut, was ihm unweigerlich Minuspunkte einbrachte. In der Schule wurde nur die Meinung geduldet, die mit der der angeblich herrschenden Arbeiterklasse übereinstimmte.

Einmal mussten sie ein Gedicht auswendig lernen, welches Lothar schon beim Lesen zum Widerspruch reizte. Unglücklicherweise war er der Erste, der es am nächsten Morgen in der Deutschstunde vortragen musste. So rezitierte er:

Lied vom Bau des Sozialismus von Johannes Verbrecher.“

An dieser Stelle unterbrach ihn die Lehrerin abrupt. „Dieser großartige sozialistische Künstler, der unsere Nationalhymne gedichtet hat, heißt doch nicht Johannes Verbrecher, sondern Johannes R. Becher! Fang bitte noch einmal an.“

Lothar begann erneut:

Lied vom Bau des Sozialismus von Johannes Erbrecher

Es ist das Fundament gelegt, die Steine sind Gedichte.
Des Volkes Wille lasst vergehn. Es soll ein mächtig Werk verwehn!
Kühn sei der Bau errichtet! Ein Bau, der stolz den Namen trägt:
Der Bau des Sozialismus!
Ein Bau, wie keiner je zuvor - so gut und fast begründet.
Schon sind die Maße ungenau. – Sozialismus heißt der Bau.“

Erneut unterbrach ihn die Deutschlehrerin energisch. Sie befahl ihm, sich sofort zu setzen und sich nach dem Unterricht beim Direktor zu melden. Dann bat sie ihre Musterschülerin, die das blaue Halstuch der Thälmann Pioniere trug, das Gedicht richtig vorzutragen, was diese tat.

Lied vom Bau des Sozialismus von Johannes R. Becher

Es ist das Fundament gelegt, die Steine sind geschichtet.
Des Volkes Wille lasst geschehn. Es soll ein mächtig Werk erstehn!
Kühn sei der Bau errichtet ! Ein Bau, der stolz den Namen trägt:
Der Bau des Sozialismus !
Ein Bau, wie keiner je zuvor - so gut und fest begründet.
Schön sind die Maße und genau. "Das Glück für alle" heißt der Bau,
Es leuchtet in die Nacht empor - der Stern des Sozialismus
Wir baun auf einem festen Grund: Auf unsres Volks Vertrauen.
Wir baun an einer neuen Welt, die glücklich ist und Frieden hält.
O Fahne rot im Blauen! Die Botschaft fliegt - von Mund zu Mund:
Der Sieg des Sozialismus!

Die Lehrerin hörte verzückt bis zum Ende des Gedichts zu und gab der Schülerin eine Eins und ein Lob für den guten Vortrag.

Die Unterredung mit dem Direktor war für Lothar wenig erquicklich, denn er wurde als Staatsfeind bezeichnet und bekam einen Tadel. Die Entscheidungsfindung des Direktors wurde dadurch vereinfacht, dass Lothar kein Pionier war und keinem dem Sozialismus zugewandten Elternhaus entstammte.

Aus dem Kapitel "In der Kindheit" meines Buches "Er war stets bemüht".


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Kommentare (2)

Syrdal


Hallo Wilfried, hast eine Zeitzeugengeschichte geschildert, die ich in gleicher Weise erlebt habe, nicht mit einem Gedicht, sondern mit einem Wurfzettel, der in der Klasse verteilt wurde mit dem Aufruf zum „Arbeitseinsatz am Sonntag zur Ehre der Partei“. In meiner kindhaften Unbedarftheit (3. Klasse) habe ich den Zettel sofort zerrissen mit den Worten „Am Sonntag habe ich keine Zeit, weil ich in den Kindergottesdienst gehe“. – Die Reaktion war eine deftige Ohrfeige des Klassenlehrers und die Einbestellung der Eltern zum Schuldirektor. Vielleicht war das der Initialfunke, dass wir dann bald auf der Liste derjenigen standen, die in der bekannten Aktion „Ungeziefer“ aus der Grenznähe ausgewiesen werden sollten…

...so war das eben damals, erinnert sich
Syrdal

Edit

Zu diesem Gedicht, lieber Wilfried, ist mir zunächst ein Foto eingefallen, das ich erst kürzlich in Koserow auf Usedom aufgenommen habe. Ein Vers an einer Hauswand. 
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Viele Grüße 
Edith


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