Badewannenglosse vom 16.10.2009


Badewannenglosse
vom 16.10.2009



Nur zur Erklärung: Badewannenglosse deshalb, weil mir solche Überlegungen eben in der Badewanne kommen ...




Was ich gerne mag:

Ein interessantes Phänomen – die unterschiedliche Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Menschen. An sich nun wirklich keine neue Feststellung, gleichsam ein uraltes Problem der Philosophie (später auch der Psychologie etc.). Aber auf ein konkretes Thema bezogen, aktualisiert und diskutiert, ist es immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich Menschen das mehr oder gleiche Phänomen wahrnehmen.
Lassen wir einmal außer Betracht, daß jemand zu naiv und zu unerfahren ist, oder sogar schlichtweg zu dumm und/oder zu blöd ist, eine/die Wirklichkeit zu begreifen. Schließen wir auch aus, daß jemand – aus welchen Gründen auch immer – einfach lügt.
So bleibt doch immer die erstaunliche Feststellung, daß Menschen die gleiche Wirklichkeit so unterschiedlich wahrnehmen und dann auch noch zusätzlich – was noch schlimmer ist – mit ihrer Meinung so zukleistern, daß man kaum noch etwas von der Wirklichkeit wahrnehmen kann.
Überhaupt – permanent laufend mehr oder weniger laut seine Meinung hinauszuposaunen, das scheint auch ein wesentliches Charakteristikum des Menschen zu sein, was übrigens Kurt Tucholsky seinerzeit in seinem Aufsatz „Der Mensch“ leider noch nicht berücksichtigt hatte!
Da bietet sich das Internet-Zeitalter geradezu an; überall und ständig kann man im Internet seine Meinung von sich geben, wovon das Publikum offenbar eifrigst Gebrauch macht.
Als seinerzeit die Debatte über die doch so reizende Eva Hermann und ihre Meinung über Vergangenheit, Drittes Reich etc. Gegenstand öffentlicher Diskussion war, fand man unmittelbar nach einer Fernseh-Quatsch-Runde allein auf der Webseite der WELT über hundertvierzig Seiten Meinungsäußerungen.

Selbst die FAZ und die Süddeutsche Zeitung haben heute ihre Meinungsecken, in der letzteren fast mediterran "Sued-Café" genannt.) Da ja nun nicht nur die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, Meinungsfreiheit garantiert, und da ja Meinungsfreiheit, Wahrheit und Wirklichkeit nun wirklich keine Synonyma sind – oder: jeder kann dumm daher quasseln und sabbern, wie und wo er will, ohne auf Folgeschäden achten zu müssen – , kann man eigentlich zur Tagesordnung übergehen, denn niemand ist bis jetzt gezwungen, eine Meinung sich zu eigen machen zu müssen.


Was ich nicht mag:

Doch wieder „ad rem“, zur Sache, denn es geht darum, wie unterschiedlich Menschen die Wirklichkeit wahrnehmen. Die wiederum im ST-Forum an verschiedenen Plätzen stattfindende Diskussion über die vergangene DDR ist für mich der aktuelle Anlaß zu dieser Betrachtung. Es scheint ja klar, daß man als Mensch, der den größten Teil seines Lebens in der BRD verbracht hat, sich ein Bild von der (jetzt eben vergangenen) DDR-Wirklichkeit kaum machen kann (es sei denn, man hätte mehr oder weniger die ehemalige DDR regelmäßig und länger besucht), aber man nimmt doch an, daß die dort lebenden Menschen ein mehr oder weniger übereinstimmendes Bild von ihrer damaligen und auch jetzigen Wirklichkeit haben könnten. Oder – da ja jeder vermutlich nicht alle Aspekte der dortigen Wirklichkeit wahrnimmt – daß man, über sein Segment der wahrgenommenen Wirklichkeit hinaus, respektiert, daß andere Menschen eben andere, weitere Segmente und Aspekte der (Gesamt)Wirklichkeit wahrnehmen. Im idealen Fall sogar sich mit diesen weiteren Aspekten auseinander setzt. Übrigens dann wäre vielleicht eine fundierte Meinungsäußerung angebracht! Und dann hätten auch Menschen, die etwa die ehemalige DDR nicht aus erster Hand, sondern allenfalls medial (etwa durch die "Springer-Presse") wahrgenommen haben, etwas von dieser Diskussion.
Aber dies scheint wohl nicht möglich sein zu können, denn – lassen wir einmal die persönlichen Invektiven, dummen Streitereinen und Anpöbeleien und inhaltlichen Dummheiten außer Acht – offenbar hat (fast) jeder eine andere DDR erlebt und polemisiert und pöbelt gegen andere, die ebenfalls für sich die ganze oder wenigstens eine partielle Wirklichkeit und Wahrheit beanspruchen.
Als außenstehender Mensch steht man da in seiner Naivität und fragt sich: Nun, was bzw. wie ist jetzt wirklich gewesen? Denn diese Diskutanten scheinen sich ja nicht einmal auf gewisse Tatsachen, also auf das, was unbestreitbar wirklich gewesen ist, einigen zu können – zu diesen Tatsachen kann ja auch jeder dann „seine“ Meinung haben. So sei noch einmal die Hilflosigkeit der „Außenstehenden“ hervorgehoben ... auf der einen Seite möchte man tatsächlich etwas erfahren (eben weil man diese vergangene DDR und das Leben dort in und mit verschiedenen Aspekten nicht erlebt hat), auf der anderen Seite sagt man sich ... eigentlich sinnlos, denn die, eben die Menschen aus der ehemaligen DDR, sind sich bezüglich ihrer vergangenen Wirklichkeit nicht einmal einig.


Über mich:

Wenn man nun wie ich seit 1990 durch Regionen der ehemaligen DDR radelte und radelt und sich auf die unmittelbare Wirklichkeit einließ und einläßt (also nicht nur von Kultur- und Landschafts-Highlight [wie es so unschön neudeutsch-englisch heute heißt] pilgert, ohne Land und Leute wahrzunehmen), registriert man nicht nur die so wahrgenommene Wirklichkeit (es sind halt nur bestimmte Aspekte, Bilder, die man nur visuell und damit unvollkommen und manchmal leider auch sehr flüchtig wahrnimmt und fotografiert), sondern man versucht, das Gesehene und auch Erlebte weiter zu verarbeiten; dies anhand von Publikationen, Internet-Informationen, wobei die unmittelbaren Erlebnisse und Begegnungen mit den Menschen dort eine gewisse Priorität haben. Einerseits aus Respekt vor diesen Menschen, andererseits wegen der Authentizität ihrer Erscheinung und Aussagen, obwohl man durchaus auch dort feststellen konnte und kann, daß ihre jeweiligen Aussagen sehr, sehr „subjektiv“ sein können ... Jetzt aber blättert und liest man in entsprechenden Publikationen, auch in den aktuellen „Wissens-Publikationen“ und Sonderheften der Süddeutschen Zeitung, der ZEIT, des SPIEGEL und des STERN. Als Beispiel und Stichwort: Blühende Landschaften, die seinerzeit Herr Kohl versprochen und/oder prognostiziert hatte. So auch im STERN-Sonderheft, wo man eben behauptet, daß sehr diese Ostländer aufgeblüht seien etc. Um dies zu demonstrieren, stellt man Aufnahmen einiger Gebäude – alte Aufnahmen, aktuelle Aufnahmen – etwa aus Görlitz etc. gegenüber und stellt dann eben die Behauptung auf, daß es dort wirklich „blüht“. Nun habe ich u.a. 2004 Görlitz für mehrere Tage erlebt (von dort aus auch Breslau besucht) und wirklich dort etliche wunderschön renovierte Häuser gesehen ... aber ich bin auch durch das ganze Görlitz geradelt, über das Zentrum hinaus, in die Randbezirke. Meine Schätzung damals (2004): knapp fünf Prozent wunderschön renoviert, rund 15 Prozent saniert, für den Rest geschah nichts, zum Teil in einem verkommenen Zustand. Ich werde – falls es Alter und Gesundheit zulassen – nächstes Jahr wieder in Görlitz sein und die gleiche Bestandsaufnahme machen. ––– Wie sieht nun die Wirklichkeit der östlichen Länder aus? Blühende Regionen und Städte? Was mache ich dann mit meinen über 2000 aktuellen Aufnahmen von z.T. mehr oder weniger völlig verlassen wirkenden Orten, verkommenen Randbezirken, von trostlosen Straßen, vielen, vielen verlassenen und zerstörten Häusern ... (Besuchen Sie einmal das Städtchen Gartz an der Oder, heute noch etwas mehr als zweitausend Einwohner!) Habe ich die falsche Wahrnehmung gehabt und der STERN-Artikel verkündet die Wahrheit? Oder ...


Die Bertha
vom Niederrhein



P.S. Kleiner Hinweis auf die nächsten Abschnitte meiner Reisebetrachtungen - aber erst nach den Donaueschinger Musiktagen.

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Kommentare (5)

niederrhein Genau das ist es wohl (oder zumindest ein wichtiger Apekt!) ... daß wohl etlichen Diskutanten ihre äußerst subjektive Sicht- und Interpretationsweise offenbar nicht bewußt ist. Und - dies unmittelbar damit verknüpft - daß sie eine andere Wahrnehmung nicht zulassen, weil diese etwa ihr (Welt)Bild stört oder gar zerstört. Dabei hatte und habe ich die Hoffnung, daß in einem solchen Forum bei doch alten bzw. älteren und vielleicht weise(re)n Menschen gerade zu diesem Punkt (Naiv formuliert: Wie war's nun in der DDR?) unterschiedliche Aspekte nicht nur zur Sprache kommen, sondern daß sich eben so etwa wie eine - wenn auch fragmentarische - Wahrheit herauskristallisiert. Eine Zeitlang habe ich alle diesbezüglichen Texte & Diskussionen aus dem Forum herauskopiert und habe diese detailliert studiert. Interessant ist das Verhältnis zwischen verwertbaren Informationen, überflüssigen Geschwätz und den Invektiven (= gegenseitigen Beschimpfungen) ...

Bertha
senhora Sind sich denn die Menschen in der ehemaligen BRD oder im heutigen Deutschland bei der Bewertung der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft einig?
Die eigene Sichtweise auf Situationen und Probleme, ist eine von zig ......... , das scheint aber nicht jedem klar zu sein.

Jeder hat seinen eigenen Lebenshorizont, für alles, was darüber hinaus geht, sind Informationen notwendig, die entweder übernommen oder abgelehnt werden.

Senhora
eleisa dass Du an den Gedankengängen während Deiner Reinigungsprozedur teilnehmen läßt...
viel Spaß an den Musiktagen...Eleisa
ehemaliges Mitglied Jemand aus der DDR berichtet, der nächste sagt Ja, aber - und dieses aber sagt alles aus.
Ja, aber = Nein, und alle Möglichkeiten zu verstehen und wirklich in Kommunikation zu treten, ist beim Teufel.
Ich habe das inzwischen akzeptiert - es ist wohl menschlich, macht aber den Umgang nicht unbedingt leichter.
Ich danke Dir für Deine Gedanken und wünsch Dir
ein schönes Wochenende
Meli
ehemaliges Mitglied um die Gedanken laufen lassen zu können.

Inhaltlich:
Mich wundert das, was Du geschrieben hast über Meinungsäußerungen etc. überhaupt nicht mehr.
Ich weiß ich wiederhole mich, aber in meiner Arbeit stelle ich genau das immer wieder fest.
Es ist ein Verharren in den eigenen Lebensumständen und diesen empathischen Schritt zu tun, egal in welcher wie auch immer gearteten Beziehung, um sich in die Lebensumstände des anderen hinein zu versetzen, ist nicht einfach. Und diese Lebensumstände müssten ja dann auch anerkannt werden - und das läuft doch häufig auf das Gegeteil des Eigenerlebens hinaus.

Ich habe diesbezüglich - und ich hoffe, nun nicht gesteinigt zu werden - einen Satz, der für mich all dieses Beharren auf den eigenen Erlebnissen festschreibt:
Jeder stirbt allein - es können noch so viele Menschen im Raum sein.
Und so hat jeder seines erlebt und muss dies doch mehr oder weniger als absolute Wahrheit bezeichnen.


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