Aus meinem Reisetagebuch: „Wie in Abrahams Schoß ins gelobte Land“
Unser Reiseleiter führt uns zu einer der Synagogen in Jerusalem. Um 18 Uhr feiert eine jüdische Gemeinde „moderner Prägung“ den Eröffnungsgottesdienst zum bevorstehenden Shabat. Shalom Ben-Chorin, der große und bedeutende jüdische Religionsphilosoph, der auch in München lehrte, hatte uns persönlich eingeladen.
Wohltuend der kühlende Schatten wie vom Mond als Geschenk gereicht über den fühllosen Wurzeln und Zehen hoher Eukalyptusbäume. In düstere Stimmung getaucht, der Vorhof zur Synagoge, wo uns der Rabbi und seine Helfer herzlich willkommen heißen. Die Erwartungen des uns fremdartig anmutenden Geschehens sind groß und weit wie die offenen Arme der nahen Klagemauer und versetzten mich in eine merkwürdige Gespanntheit.
Die jüdische Zeremonienwelt dehnt sich exakt in die Zeit. In meinem Innern erhebt sich ein zitterndes Schweigen - wie das lichte Beben der krausen Wasseroberfläche des Jordan. Und doch wird der Abend zu einem unvergesslichen Erlebnis. Gemäß jüdischer Tradition betreten wir Männer mit Käppi behütet drei Schritte vor unseren Frauen die Synagoge. Eine überaus freundliche, ältere Dame geleitet uns hinein – sie ist sehr lebhaft und spricht fließend deutsch; sie kann sich noch an die Schreckenszeit unter Hitler erinnern und ist doch nicht voreingenommen. Der Raum ist bis auf den letzten Platz besetzt – es müssen noch Stühle herbeigeschafft werden – er ist angenehm temperiert und freundlich wie die Menschen darin. Ich spüre die Absicht des dauerhaften Friedens, der unmöglich scheint. Frauen und Kinder sind nicht, wie in dem Filmstreifen „Yentl“ von Barbara Streisand dargestellt wird, auf die hintersten Bänke verwiesen, sondern haben ihren Platz mitten in der Gemeinde.
Die Dame reicht mir lächelnd ein Gesangbuch und sagt: „Es wird von der letzten Seite an nach vorne gelesen.“ Die Texte in hebräischer und englischer Sprache machen mich konfus. Bin mehr am Blättern als am Singen. Dennoch wird mir bald das Hebräische vertrauter und mühelos errichtet sich eine neue Ordnung in meinem Kopf. Eine junge Frau, sie assistiert dem Rabbi und trägt über ihren Schultern einen breiten, weißen Schal mit schwarzem Rand, singt mit bezaubernder Stimme das Eingangslied, begleitet von einer Harfenistin – beide sind sehr lebhaft und eifrig bei ihrer Aufgabe. Die Gemeindemitglieder beteiligen sich mit vollen Herzen. Wechselgesänge, rhythmisch ausgewogen und von melodischer Eleganz, regen mich zum Mitsingen an, was mir nach kurzer Zeit recht gut gelingt.
In dem Singen liegt eine gewisse Befreiung. Verkrustungen und verhärteter Ballast aus längst vergangener Zeit lösen sich von der Seele ab: Die Hilfeschreie deportierter Kinder, deren nachterfüllten Augen hoffnungslos nach dem Beistand ihrer Mütter flehen, denen sie eben entrissen worden waren, beim erbarmungslosen Hinaufschubsen auf feldgraue Militär-Lkw´s, genagelte Stiefel über Pritscheshosen, ruhende Blitze in kalibrierten Rohren an den Körper gepresst, die Finger wie Geierschnäbel am Abzug, aufgerissene brüllende Mäuler, Männerschlünde unter Stahlhelmen gegen angstbesetzte Kinderaugen, leichenblasse Gesichter und wie unlösbare Knäuel ineinander verkrampfte Finger und Hände - in der Kälte zitterndes und wehrloses Leben. Das hämische Grinsen und dumpfe, aus dem Untergrund hervorbrechende Gemurmel braver Bürger hinter halb geschlossenen Vorhängen, ohne Frage nach dem Warum – ohne Antworten.
Vor meinem zitternden Auge wölbt sich noch einmal die Gedenkstätte der sechs Millionen ermordeter Juden empor, Yad Vachem, im Hagel niedersausender Blitze unendlichen Leids und unvorstellbarer Qualen – wie das im lautlosen Tränen-Meer der Menschheit verworfene Salz. „Damit niemals vergessen werde ...“, steht über dem gefährdeten Schlund, in riesigen Lettern, und deutsch – das Deutsche untrennbar und schicksalhaft durch Vernichtung menschlichen Lebens verbunden mit Israel? „Nein, nein, ... wozu wir Menschen fähig sind“, ergänzt und wehrt sich die charmante Jüdin Rosel Engel – einst als junge Frau aus Deutschland geflohen und niemals mehr dorthin zurückgekehrt. Eine Warnung nur, vor dem Bösen an sich.
Im Innern der Gedenkstätte nichts als Nacht, begleitet von Nacht, hinter Gittern besungen von den Gestaden der Einsamkeit der Getöteten wie lautlose Lichter über leeren Halden. Und doch sind wir schon wieder auf dem Wege dorthin, zur Zufluchtsstätte schrillen Schweigens.
Ein in die Ferne gezogener Schatten der Winde und das Geschrill verwundeter Töne, die an mein Ohr dringen, sie erwecken mich aus dem Rauschen sprudelnder Schrecken in die Gegenwart jüdisch-liturgischen Handelns, jüdischer Gesänge und zu den bittenden Tränen der Kantoristin, die sie Kaschi nennen. Es ist der brausende Ozean der Gefühle, Empfindsamkeiten, die sich hinter den gepeitschten Blüten von hebräischen Wortgebilden verstecken und der Gemeinde wie eine sanfte Woge den vagen Blick ins Meer der Unendlichkeit gestattet – immer wiederkehrend wie furchtlose Vögel.
Roter Samt schmückt die Kulisse vor der der Rabbi Lesung und Predigt vorträgt – über die Schulter geworfen ein perlmuttweißer Gebetsschal, mit Goldrand bis zu seinen Füßen reichend. Gemeindemitglieder und Rabbi tauschen Gedanken aus, palavern, führen Dialoge, deren Inhalte mir fremd bleiben. Zustimmung oder Widerspruch? Ich möchte in den Abgrund ihrer gefesselten Worte steigen und Planeten aus Rosen in die Welt streuen. Sind es die gleichen Reden, wenn auch in aramäischer Sprache, die Jesus aus der Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth vertrieben, aus den Gemäuern ohne Mond und Sterne, aber mit in den Sand geworfener modriger Zunge? Auf den Ruinen wachsen endlose Klagen wie das verdorbene Haar vergessener Gewohnheiten in winterlicher Erstarrung – die Farben der verbliebenen Wandfragmente sind für alle Zeiten verstummt.
Der Rabbi hebt wie in verklärter Fassung den roten Samt-Teppich zur Seite und entnimmt dem verborgenen Holzschrein die Thora, zeigt sie dem Volk und preist Gottes Geschenk, die fünf Bücher Moses: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Die Jungen, die am Vormittag erstmals mit dreizehn Jahren hinterm Schatten der Westmauer daraus vorlesen durften und auf diese Weise im Rahmen der Bar-Mizwa-Feier ihre religiöse Reife erlangten, werden aufgenommen in die Gemeinde, willkommen geheißen und mit Glückwünschen überhäuft. Der Rabbi reicht Wein in Bechern.
Über den verklingenden Arpeggiaturen der Harfe schwebe ich aus der Synagoge, umgeben vom stummen Gesang aufgeregter und freundlicher Schmetterlinge hinaus zu den Eukalyptus-Bäumen, die nach dem Himmel greifen, wo der frühjährliche Wind das frische Blattwerk ungestüm durchwühlt.
Herzen wie Kleiderschränke öffnen sich beim Abschied nehmen. Küsse, die einen langen Winter überdauert haben und Schwüre, die gelten sollen für alle Zeit. Händeschütteln, Umarmungen und lachende Gesichter ringsumher mit dem Friedensgruß auf den Lippen: Shabat-Shalom.
© Horst Ditz
Kommentare (3)
harfe
für den Kommentar. Es war bei unserer ersten Reise 1985 durch Israel als uns der leider inzwischen verstorbene jüdische Gelehrte Pinkas Lapide zu dieser Schabbat-Feier eingeladen hatte. Ein grandioses Erlebnis – Geruhsame Pfingstfeiertage wünscht dir aus der sonnigen Pfalz - Horst
ehemaliges Mitglied
für Deine Eindrücke, die Du mit Deinen wunderbaren Worten so widergibst, dass man das Gefühl bekommt, als wäre man selbst dabei. Schön.
freundliche Grüße von
Gerd
freundliche Grüße von
Gerd
Pinchas Lapide erlebte ich in Deutschland..
Deinen Text oben - von den Nazischergen- las ich nur teilweise...es tut zu weh.
5 mal waren wir in Israel...wie gut, dass wir das machten, obwohl damals gar nicht so viel Geld zur Verfügung stand.....
Bei den Tübinger Literaturtagen, kürzlich, kaufte ich mir: "Er wandelte nicht auf dem Meer" von Lapide.
Da ich eher selten zu den Blogs komme, freue ich mich, dich hier getroffen zu haben-
und grüße!!
Marianne