Aus meinem Buch "Er war stets bemüht".


Aus meinem Buch
Bei einem Genie

Nach der Lehre bewarb sich Lothar im Forschungslabor desselben Betriebes. Er wurde auch wirklich angenommen und dem Chemiker Dr. Mi­chael Marder als Laborant zu­geteilt. Der neue Chef machte einen sehr ge­bildeten Eindruck.
Lustig war es mit Theodor Tintenfisch, dem Hausmeister, der vor allem durch seinen Dialekt auffiel, den Lothar bis dahin nur aus dem Komödienstadel im Westfernsehen kannte. Auf die Frage, woher er denn käme, antwortete Herr Tintenfisch: „Aus Übersee.“ Nun war man ja in der DDR nicht gut über Westdeutschland und seine Bundesländer informiert, aber dass Bayern auf dem Landweg zu erreichen war, wusste Lothar ge­nau und hielt die Antwort deshalb für einen weiteren Witz des Bayern. Herrn Tintenfisch hatte es aus irgendwelchen Gründen von seiner schönen bayerischen Heimat in die DDR verschlagen, aber im Gegensatz zu den Eingeborenen nahm er nicht alles, was passierte, widerspruchslos hin, sondern grantelte lautstark über jeden vermeintlichen Missstand. Er hatte ständig einen verloschenen Zigarrenstummel im Mund. Was immer er sagte, klang furchtbar lustig.

In seiner neuen Tätigkeit musste Lothar Versuchsanord­nungen nach An­weisung des Chefs aufbauen, an denen dann eine andere Kollegin Messreihen durchzuführen hatte. Das klingt im ersten Moment einfach, war aber gar nicht so leicht zu be­werkstelligen, denn Dr. Marder war ein Genie und setzte nicht nur dieselbe Fähigkeit bei seinen Mitarbeitern voraus, sondern darüber hinaus auch die Gabe seine Gedanken lesen zu können. Er hielt nichts von Zeich­nungen, sondern erwartete, dass man sei­ne Geistesblitze sofort vollständig durchdrang und in die Realität umsetz­te.

Nach und nach merkte Lothar, dass sein Chef in der gesamten For­schungsabteilung sehr un­beliebt war, denn er hörte, dass fast alle ande­ren Laboranten schon bei diesem gearbeitet hatten, dann aber so schnell wie möglich zu anderen Chefs geflüchtet waren. Dabei spielte nicht nur Dr. Marders Umgang mit seinen Untergebenen eine Rolle, sondern auch die Gefährlichkeit der Arbeit bei ihm. Obwohl der Wissenschaftler schon etliche Ermahn­ungen und Verweise bekommen hatte, missachtete er weiterhin die meis­ten Arbeits­schutzvorschriften.

Nachdem der Glasbläser sich wieder einmal geweigert hatte, sah sich Dr. Marder zum wiederholten Mal genötigt, die Gasflaschen nebst Bren­ner und Schläuchen in sein Labor zu holen. Dann stellte er sich auf Lothars Bürostuhl und begann eines der Glasrohre einer Versuchsanlage zu erhitzen, um es in ei­ne andere Richtung biegen zu können. Lothar fragte ihn, ob das nicht ge­fährlich sei, denn in den Röhren befand sich reiner Wasserstoff. Dr. Mar­der lachte nur mitleidig über diese dumme Frage und erklärte dem Unwissenden, dass die Gefahr einer Knallgasexplosion nur dann bestünde, wenn Wasserstoff und Sauerstoff zusammenträfen, was er selbstverständlich bei seiner Arbeit tunlichst vermeiden würde.
Trotzdem ging Lothar während des Glasblasens lieber aus dem Labor auf den Gang hinaus, was von Dr. Marder mit höhnischem Lachen quittiert wurde. Wäh­rend Lothar die Tür hinter sich schloss, suchte er sich vorsorglich schon mal einen Fluchtweg, falls es zu einem Brand kommen sollte.
Es dauerte gar nicht lange, da krachte es tatsächlich ganz gewaltig im Labor und als Lothar die Tür vorsichtig einen Spalt weit öffnete, sah er Dr. Marder ziem­lich bedep­pert auf dem Stuhl stehen, den Brenner in der Hand, aber die Apparatur, an der er gerade gearbeitet hatte, lag pulverisiert im ganzen Labor verteilt. Ihm war anscheinend außer einem Schreck und vielleicht einem Knalltrauma nichts passiert und er begann sofort zu erklären, warum es zu dieser Explosion gekommen war. Er endete mit dem Satz „Da wirkte eben wieder das Gesetz von der maximalen Sauerei“, dann stieg er vom Stuhl.

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Kommentare (1)

ahle-koelsche-jung

Ja, so kann es einem ergehen. OK Chemie war nie mein Fall, aber die Geschichte hat mir gefallen.

VG Wolfgang


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