Zu den Kindern von Barbara und Gerd hatte Walter ein sehr gu­tes und enges Verhältnis. Mario war zwei Jahre jünger als seine Schwester und ging noch in die Krippe, während Jacqueline schon den Kindergarten besuchte. Walter störte es lediglich, dass sie ihn Onkel nannten. In Wirklichkeit war er doch ihr Cousin, wenn auch ein großer Altersunterschied vorhanden war.
Weil er nicht im Schichtbetrieb arbeiten musste, wie Barbara und Gerd, brachte er die beiden Kleinen oft in den LPG-eigenen Kindergarten bezie­hungsweise in die Krippe, die sich im selben Gebäude befand und holte sie nach Feierabend gern auch wieder ab, wenn ihre Eltern zu dieser Zeit arbeiten mussten.

Der direkte Weg von der Kindereinrichtung nach Hause führte am Friedhof vorbei. Als Walter mit den Kindern dort vorbeikam, fragte Jacqueline plötzlich: „Was ist das da drüben für ein Garten, Onkel Walter?“ Walter nahm seine Rolle als Erklärer ernst und ant­wortete wahrheitsgemäß, dass es sich dabei um einen Friedhof handele. Damit war Jacquelines Wissensdurst noch nicht Genüge getan. Sie wollte mehr wissen.
„Was ist das, ein Friedhof?“
Walter wusste nicht so recht, wie er die Funktion eines Friedhofs erklären sollte, so dass Kinder sie verstünden, aber nicht erschra­ken.
„Nun, wenn Menschen gestorben sind, also wenn sie tot sind, dann werden sie auf den Friedhof gebracht.“
Vom Begraben wollte Walter lieber jetzt nicht sprechen. Das sollten später die Eltern ihren Kindern erklären.
Mario hopste plötzlich vor Begeisterung und rief: „Da läuft ein to­ter Mann mit einer Gießkanne!“. Dabei zeigte er auf Herrn Koll­mann, der täglich den Friedhof aufsuchte, um die Blümchen auf dem Grab seiner kürzlich verstorbenen Frau zu gießen oder neue aus seinem Garten hinzustellen. Walter musste sich das Lachen verkneifen und gab sich nun notgedrungen große Mühe, den Kin­dern behutsam zu erklären, was Sterben bedeutet.
Am nächsten Tag musste er sich vor den Eltern der beiden Klei­nen rechtfertigen, weil er ihnen solche Schauergeschichten erzählt hätte.

Aus dem Buch "Onkel Bürgermeister" von Wilfried Hildebrandt


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Kommentare (2)

Heidi Grünwedl

@Wilfried
Das ist ja eine amüsante Begebenheit. Ist sie wirklich passiert?
Bist du mit den Personen der Geschichte auch verwandt oder befreundet?
Ich habe schon recht früh gewusst, was ein Friedhof ist.
Als meine Eltern und mein Bruder starben, war ich noch recht jung.
Liebe Grüße von
Heidi

Wilfried

@Heidi Grünwedl 
Liebe Heidi,

diese Begebenheit ist wirklich passiert, allerdings nicht mir, sondern einer Kollegin mit ihren Kindern. Ich fand sie wert, in meinen Roman aufgenommen zu werden, zumal sie sehr passend ist.
Wie so oft habe ich auch in diesem Buch Autobiografisches mit Erdachtem und Gehörten kombiniert.

Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat und hoffe, dass mein Geständnis, diese Begebenheit nicht selbst erlebt zu haben, dir nicht die Freude daran verdirbt, meine früheren und meine nächsten Geschichten zu lesen, die an jedem Samstag an dieser Stelle erscheinen.
Liebe Grüße
Wilfried


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