... In den ersten Nachkriegsjahren
Wenn ich so manche Auszugsgeschichte eines Lebens von uns Oldies im ST lese, kommt mir oft der Gedanke, wie gut ich es trotz des frühen Verlustes unserer Mutter (ich wurde 14 Tage später sieben Jahre alt) doch hatte.
Oma, die Mutter unseres Vaters, lebte schon während des Krieges zur Unterstützung meiner damals noch kleinen Familie bei uns und gab ja bereits während der schweren Krankenzeit unserer Mutter bis zu ihrem Tod in den Nachkriegsjahren uns Mädchen familiären Halt, so dass unser Vater seinen Beruf ausüben konnte, immer jemand zu Hause war, wenn wir Kinder mütterliche Zuwendung brauchten.
Diese krankheitsbedingte Einteilung führte auch dazu, dass wir keine durchgehenden Freund-schaften schließen konnten, durften. In der großen Nachkriegswohnung lebten ja zwei Familien, in denen beide Mütter schwer krank waren. Da war Kindergejohle nicht erwünscht. Zuhause las ich lieber schon als I-Männchen, was mir in die Finger kam. Unsere Große hatte dennoch eine Freundin, zu der sie oft ging. Und Oma kümmerte sich sehr um unser Nesthäkchen, meine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester. Ich hing irgendwie im Niemandsland …
Meine jüngere Schwester hing offensichtlich sehr an mir. So oft wir auf der – damals noch recht verkehrsarmen – Straße spielten, verteidigte sie mich! Ich werde nie vergessen, wie sie einen größeren Jungen anschrie: „Wenn Du meiner Schwester was tust, verhau ich Dich!“ Sie war gerade mal vier Jahre und der Junge ein Jahr älter als ich …
Als sie noch im Kindergarten war (ja, auch das gab es für uns damals schon!), ein Fotograf die vielen Kinder einzeln ablichtete, lief sie einfach, gerade gut drei Jahre alt, durch die Stadt nach Hause, um mich zu holen. Ich sollte mit auf ihr Kindergartenfoto! Wir haben beide für ihre Schwesternliebe eine anständige Standpauke erhalten.
Wir mussten nicht flüchten, hatten eine Wohnung, in der wir gemeinsam leben konnten, unser Vater war nicht in Kriegsgefangenschaft gewesen und zum Kriegsende wohl auch gleich wieder daheim. So, wie die „Besatzungsmacht“ – bei uns die Engländer – es wieder erlaubten, konnte er in seinem nicht ausgebombten Salon wieder arbeiten. Münster war zu 60 % schwer von Bomben getroffen, aber das Haus, in dem der väterliche Salon war, blieb stehen. Die hinteren Räume gab er seiner Schwägerin, der jüngsten Schwester unserer Mutter, als Wohnung für ihre Familie. Familiäre Hilfe wie auch für die Familie ihres Schwagers, die mit uns in der großen Wohnung zuhause war, war angesagt! Wenn man schon so viel Glück nach so schlimmen Kriegsjahren hatte, war dieser Zusammenhalt einfach wichtig.
Bereits in den ersten Monaten nach Kriegsende – in Münster Ende April 1945 – pflegte mein Vater den englischen Damen die Haare, durfte auch im Stadttheater, das recht bald wieder seinen Betrieb aufnahm, als Friseur und Visagist, als Violinist im Orchester arbeiten. Seine Entlohnung? Damals wohl erst Naturalien für die Familie,Obst, Schokolade, Zigaretten …
So, wie die Engländer den Deutschen wieder zu arbeiten gestatteten, konnte er seinen Salon wieder nutzen. Daran muss ich immer wieder denken, wenn ich im Münster-Krimi Wilsberg im TV heute die heimatliche Straßenecke sehe, in der meines Wissens zu meiner Jugendzeit eine kleine Kunstschmiede für Kupferarbeiten beheimatet war. Im Krimi ist es ein Antiquariat. Wenn ich mein Elternhaus besuchen möchte, muss ich jedes Mal dran vorbei fahren. Ebenso an der Überwasserkirche - eigentlich heißt sie Liebfrauen-Überwasserkirche - in der ich geheiratet habe, deren Organist mir zehn Jahre lang Klavierunterricht gab. Obendrein bekamen wir jede Woche dienstags ein Heimkonzert, weil Vater und der Organist dann zuhause "Konzert übten", Hausmusik machten.
Die Arbeit für das Theater, die mein Vater auch als Violinist ergänzte, brachte ihm die Entspannung, die ja zuhause durch die schwerkranke Ehefrau sowie seine drei kleinen Mädchen eher nicht gegeben war. Ich durfte schon als Sechsjährige ein paar Konzerte miterleben, ebenso diverse Ballettaufführungen. Und im Schlossgarten gab es im Herbst 1949 Märchenvorführungen, wo er das kleine Orchester als Violinist inklusive einem Soloauftritt unterstützte. Was war ich stolz, als ich ihn da als Solist spielen sah und hörte – das Märchen Hänsel und Gretel war plötzlich Nebensache …
Diese „Nebenrolle“, die ihm das Leben damals zugestand, konnte er auch nur verwirklichen, weil neben seiner Mutter, unserer Oma, eine Krankenschwester die Betreuung unserer Mutter übernommen hatte. Sie war den ganzen Tag an ihrer Seite, bis mein Vater nach Hause kam.
Dafür durfte sie dann auch nach dem Tod unserer Mami sich mit uns auf Borkum erholen.
Kommentare (10)
Liebe Andrea!
Da drück ich Dir mal ganz fest die Daumen, dass Deine Sehschärfe (Grauer Star?) bald wieder ausreichend zur Verfügung steht.
Nikolaus 2011 und Ende Januar 2012 durfte ich mir meinen grauen Star auch operieren lassen. Seitdem bin ich wieder voll mit meiner Sehfähigkeit zufrieden.
Nur manchmal fehlt mir meine frühere Kurzsichtigkeit: einfach die Brille von der Nase nehmen zu können, um mit Lupenvergrößerung alle klitzekleinen Dingen haarscharf sehen zu können - das geht heute nicht mehr ...
Es freut mich, dass meine Kindheitserinnerungen auch Dir gefallen haben, Du sie lesen und kommentieren mochtest.
lichen Dank und lieben Gruß.
Uschi
Liebe Uschi,
Du hast eine interssante Biografie und hast sie spannend geschildert. Besonders gut gefallen
mir die Fotos. Alte Familienbilder halten die Vergangenheit fest und erinnern uns so an ganz bestimmte Momente. Man betrachtet Sie immer wieder gerne.
Liebe Grüße Carola
Damit hast Du wirklich Recht, liebe Carola! Unserem Vater war es sehr wichtig, dass er immer wieder und gerne sein drei-Mädel-Haus fotografierte und alle Aufnahmen gerecht verteilt in die Alben jedes Kindes geklebt wurden.
Ich habe meine Alben vor acht Jahren eingescannt und habe daher eben Zugriff auf "meine Vergangenheit", aber auch auf Fotos aus der Kinder und Jugendzeit meiner Eltern.
Aus der Jahrhundertwende liegen mir sogar noch Fotos meiner Großeltern vor. Das ist wirklich spannend, wenn irgendwer tatsächlich noch Fotos von um 1900 hervorkramt. Und mit den Fotos tauchen ja dann auch Geschichten auf ...
liches Dankeschön für Dein Lesen und Deinen Kommentar
Uschi
Deine Nachkriegserlebnisse ließen sich sehr angenehm lesen ,
liebe Uschi,
ich finde es immer wieder interessant, wie die Menschen nach diesem schlimmen Krieg, in unterschiedlicher Weise wieder in den Alltag fanden.
Deine netten Fotos (könnten genau meine sein) sind die wertvollen Zeitzeichen und natürlich Erinnerungen.
Meine Eltern mußten zweimal flüchten, das zweitemal war ich Kleinstkind und habe noch lange die Ängste meiner Eltern in mir getragen. Bis zur Einschulung 1951 in Köln hatten wir keinen festen Wohnsitz (mir wird es über diese Erinnerung jetzt ganz heiß=unvorstellbare Zustände mußte ich erfahren)
Noch heute hasse ich jegliche Veränderungen, das sind wohl Folgen aus dieser Nachkriegszeit.
Danke fürs Lesen Deiner Erinnerungen
und heute sind wir auf "Augenhöhe",
herzlichst
Renate
Auch mich fesseln immer wieder die Erlebnisse Anderer nach den schlimmen Kriegszeiten,
liebe Renate!
Ich weiß nicht, wie die Münsteraner es geschafft haben, ihre heftig zerbombte Stadt so schnell wieder "auf Vordermann" zu bringen. Schon als 1947 meine jüngere Schwester geboren wurde, war ich zur Entlastung bei einer Freundin meiner Mutter untergebracht. Tante Agathe erzählte mir später einmal, wie ich sie mit ihrer Mutter von der Arbeit bei Karstadt abgeholt hätte und die kleine Uschi sang lauthals in der Straßenbahn ihre Kinderlieder ...
Zu meiner Einschulung 1951
ging es in die gleiche nicht zertörte Schule wie später, als dieses Gebäude Realschule war. Aber dann war die neuen Grundschüle in unserem Wohnviertel bezugsfertig und ein halbes Jahr später saß ich mit meinen Mitschülern im neuen Gebäude direkt neben der Kirche.
Ein richtig breiter neu gepflasterter Gehweg bot sich dort als ideale Rollschuhbahn an. Hab ich nachmittags auch oft genutzt!
Aber Dir nochmals "ganz heiße" Erinnerungen an die Lebensumstände im Köln 1951 wollte ich Dir nicht bereiten. Danke, dass Du lesen mochtest und mich in Deinem lieben Kommentar wissen ließest, dass wir beide im gleich Jahr eingeschult wurden!
lichen Gruß nach Kölle von
Uschi
Liebe Uschi, aufmerksam habe ich Deine Erinnerungen gelesen und die ansprechenden Fotos betrachtet und auf mich haben sie so gewirkt, dass Du trotz des frühen Todes Deiner Mutter und Deiner Rolle als Mittelste von Euch Dreien eine liebevolle Zuwendung erfahren hast. Du siehst auf dem Foto Deinem Vater sehr ähnlich, meine ich.
Schön ist auch der Schluß mit dem Erholungstag auf Borkum.
Liebe Grüße und noch einen schönen Sonntag wünscht Dir
Svala
Ja liebe Svala, ich hatte als Klein- und Schulkind eine schöne Kindheit, die allerdings leider doch schon sehr dem Neid der Großen preisgegeben war. Sie liebte ihren Vater heiß und innig, konnte es mir, ihrer nachgeborenen Schwester, allerdings nie verzeihen, dass ich im Aussehen unserem Vater so mehr ähnelte als sie (als Kleinkind ein blondes Engelchen, dass nach seiner Mama kam). Sie war blauäugig, ich hatte die schwarzen Augen unseres Vaters.
Ihre vielen Bosheiten führten dazu, dass sie 1951 nach der Grundschule auf ein gymnasiales Internat wechseln musste, damit unser Oma nicht mehr den von ihr ständig angezettelten Streitereien ausgesetzt war. Das blieb stets der weniger gute Punkt in meinem Leben, sogar noch, als meine Kinder längst erwachsen waren ...
Selbst ihren eigenen Töchtern hat sie mit ihrer überdimensionalen Vaterliebe und ihrer Bestimmungssucht beiden deren jeweils erste Ehe zum Fiasko gemacht.
Das durchzieht - ebenso wie alle schönen Erlebnisse - mein Leben.
Danke für Dein Lesen und Deie lieben Wünsche.
Auch Dir einen schönen restlichen Sonntag noch
lichst Uschi
Es ist, wie ich selbst erfahren habe, eine wunderbare Sache, sich in den nun etwas fortgeschrittenen Jahren an die Zeit des eigenen Werdens zu erinnern, an Schönes und Trauriges, an Schweres und Erhebendes... alles Erlebte ist lebensprägend und formt den Charakter. – Deine Geschichte habe ich sehr gerne gelesen, hat sie doch so manches, was ich selbst – freilich in meiner Lebensregion mehr in Armut und Mangel – in vergleichbarer Weise erlebt habe.
Danke und herzliche Sonntagsgrüße
Syrdal
Danke für Deinen sehr verständnisvollen Kommentar, lieber Syrdal!
Durch nicht nur Deine, sondern auch durch die Erinnerungen anderer ST-User hier bin ich ebenfalls so ein wenig in meine eigene Kindheit zurückgewandert. Fast habe ich mich ein wenig geschämt, wenn ich an die schweren Zeiten so manch Anderer dachte.
Dafür entdeckte ich aber auch, woher wohl das stark ausgeprägte Gefühl meiner Tochter wie auch bei mir, anderen Hilfe zu geben, kommt. Daran war mein Vater wohl nicht so ganz "unschuldig" ...
Er war es, der sich von Kleinkindesbeinen an durch sein Leben kämpfen musste, war er doch bereits als vier Wochen altes Baby Halbwaise! Sein Stiefvater forderte später viel Hilfe von ihm, was seine eigenen Söhne, die Halbbrüder meines Vaters nicht leisten mussten. Kein Kind war mehr für seine Mutter helfend an ihrer Seite als mein Vater. Das fiel mir schon auf: 3 Brüder und eine Schwester - aber Oma lebte bei uns ...
Lang, lang ist's her. Danke, dass Du lesen und kommentieren mochtest
liche Sonntagsggrüße von Uschi
Liebe Uschi,
obwohl ich Deine schönen Erinnerungen wegen meiner Augen nicht ganz lesen konnte, merke ich jedoch, dass es, abgesehen von Eurer kranken Mutter, eine schöne Zeit gewesen ist. Das entnehme ich auch den vielsagenden Fotos.
In der Hoffnung, dass meine Sehschärfe nach der OP wieder besser ist, danke ich Dir und grüße Dich herzlich.
Andrea