Anzeige
Die Farbe deiner Worte
Kapitel 4 – Am Fenster
Der nächste Morgen begann mit Regen, feiner, fast unsichtbarer Niesel, der die Straße glänzen ließ wie eine frisch aufgeschlagene Seite. Clara trat ans Fenster, die Kaffeetasse in der Hand, und wartete beinahe automatisch auf ein Zeichen vor der Tür. Doch diesmal war wieder nichts da. Kein Umschlag, kein Satz, nur das Tropfen von Wasser über die Dachrinne.
Im Laden stellte sie den Stuhl am Fenster zurecht. Seit Jonas ihn so selbstverständlich eingenommen hatte, wirkte er wie reserviert, als gehöre er einem Gast, den man erwartet, auch wenn man nicht weiß, wann er kommt.
Die Glöckchen klingelten gegen elf. Jonas trat ein, die Haare noch feucht, als wäre er gerade vom Regen hergekommen. Er trug keinen Rucksack, nur ein schmales Buch unter dem Arm.
„Für Sie“, sagte er, fast verlegen. Er legte es auf den Tresen. Der Einband war dunkelblau, die Kanten vom vielen Blättern abgerieben. Eine Gedichtsammlung. „Es ist nicht neu, aber… es begleitet mich schon lange. Ich dachte, vielleicht begleitet es auch Sie ein Stück.“
Clara fuhr mit den Fingern über den Einband, spürte die abgenutzte Textur. „Darf ich fragen, was Sie daran festhält?“
Jonas überlegte kurz. „Die Pausen zwischen den Worten. Manchmal sind die wichtiger als das Gesagte. Sie lassen Platz, ohne leer zu sein.“
Sie lächelte leise. „Das klingt, als würden Sie auch beim Malen Pausen setzen.“
„Vielleicht“, sagte er. „Vielleicht ist Malen auch nur eine Art, Pausen sichtbar zu machen.“
Sie goss zwei Tassen Kaffee ein, und sie setzten sich ans Fenster. Der Regen hatte nachgelassen, aber die Straße war noch voller Spiegelungen. Clara schlug das Buch auf, las eine kurze Strophe laut. Die Worte blieben wie ein Atemzug im Raum stehen. Jonas hörte zu, die Hände um die Tasse geschlossen, sein Blick auf sie gerichtet, aber nicht fordernd – eher so, als wolle er sehen, wie die Worte über ihre Lippen kamen.
„Sie haben eine Stimme, die bleibt“, sagte er nach einer Weile. „So, als würde man sie noch hören, wenn der Raum schon leer ist.“
Clara spürte, wie ihre Wangen warm wurden. Sie senkte den Blick auf die Seite, um etwas zu sagen, das kein Schweigen war. „Vielleicht ist das der Grund, warum ich hier arbeite. Damit Stimmen nicht verschwinden.“
Eine Möwe huschte dicht am Fenster vorbei, und beide zuckten zusammen, lachten dann über ihr eigenes Erschrecken. Das Lachen blieb noch einen Moment, heller, als hätte es ein Gewicht abgenommen, das keiner benennen wollte.
Als Jonas aufstand, zögerte er. „Darf ich Sie… einmal ins Atelier einladen? Ich würde Ihnen gern zeigen, wo die Bilder entstehen. Es ist kein großer Ort, eher chaotisch, aber… er gehört mir.“
Clara sah ihn an. Die Einladung war schlicht, ohne Verkleidung. Sie spürte, wie in ihr eine Antwort entstand, bevor sie sie aussprach. „Ja“, sagte sie. „Das würde ich gern.“
Er nickte, erleichtert. „Dann morgen? Gegen Abend, wenn das Licht fällt?“
„Morgen“, wiederholte sie, und in ihrem Inneren klang das Wort wie etwas, das größer war als nur ein Datum.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, blieb der Platz am Fenster leer zurück. Doch diesmal war es nicht nur die Wärme seines Kaffees, die in der Luft hing, sondern auch das Versprechen einer Nähe, die nicht aus Papier bestand, sondern aus Händen, Augen, Stimmen.
Clara sah zum Perlmuttkästchen hinüber. Die drei Karten lagen darin, geschlossen, stumm. Sie wusste, dass sie warten würden, geduldig, wie Schatten, die sich ausbreiten, wenn man nicht aufpasst. Aber für den Moment, für dieses Morgen-zu-Morgen, war da etwas anderes: eine Stimme, die bleiben konnte.
Kommentare (0)