Die Farbe deiner Worte


Die Farbe deiner Worte
Kapitel 2 – Zweiter Satz

Der zweite Umschlag lag an diesem Morgen nicht auf dem Tresen, sondern direkt vor ihrer Wohnungstür. Clara hob ihn auf, noch bevor sie die Kaffeemaschine einschaltete. Das Papier war dasselbe wie beim ersten – elfenbeinfarben, leicht rau. Die Handschrift auf der Vorderseite unverändert ruhig.
Sie setzte sich an den Küchentisch, den Umschlag in den Händen. Es war früh, zu früh vielleicht, um einen neuen Schatten in den Tag zu lassen. Aber die Neugier wog schwerer als Vorsicht.

Der Satz stand wieder mittig auf der Karte, diesmal in etwas kleinerer Schrift:
Dein Lächeln im Regen hat mich gerettet.

Clara lehnte sich zurück. Das Bild war so deutlich, dass sie den Geruch des Regens spüren konnte, das klamme Gefühl nasser Haare im Nacken. Aber gerettet? Wen? Wann? Sie hatte nie das Gefühl gehabt, jemanden gerettet zu haben – nicht einmal sich selbst.
Sie legte die Karte auf die Fensterbank, als könne das Tageslicht etwas aus ihr herauslocken. Dann stellte sie die Kaffeemaschine an und bereitete sich auf den Tag vor.

Der Laden roch heute nach frisch gelieferten Kisten. Clara hatte die Tür offen gelassen, um den Duft von Salz und Herbst hineinzulassen. Sie sortierte Neuerscheinungen, als das Glöckchen erklang.

Jonas stand in der Tür, den Rucksack auf einer Schulter, ein paar feine Farbflecken am Ärmel. „Ich wollte die Tasse zurückbringen“, sagte er und stellte sie auf den Tresen. „Und vielleicht einen Kaffee trinken, wenn das Angebot noch gilt.“
„Es gilt“, sagte Clara, und sie goss zwei Tassen ein.
Jonas setzte sich an den Tisch am Fenster. „Ich habe gestern ein Bild angefangen“, sagte er, während sie die Tassen brachte. „Es ist… nun ja, Blau. Ich wollte Sie fragen, ob ich es Ihnen zeigen darf, wenn es fertig ist.“
„Gern.“ Sie lächelte, und er erwiderte es mit einer Art vorsichtiger Wärme.

Sie sprach über Bücher, über die wenigen Touristen, die jetzt im Oktober noch kamen. Jonas erzählte von der Schwierigkeit, Nebel zu malen, ohne dass er wie Rauch wirkte.

Als er ging, war der Platz am Fenster noch warm. Clara trank den Rest seines Kaffees aus, ohne recht zu wissen warum.


Am Nachmittag kam Mira vorbei. „Schon wieder ein Brief?“ fragte sie, noch bevor Clara etwas sagen konnte.
Clara nickte und zeigte ihr die Karte.
Mira las und zog eine Augenbraue hoch. „Das wird ernst. Wer immer das schreibt, kennt dich – nicht nur von außen.“

„Oder er kennt eine Clara, die er sich wünscht“, sagte Clara leise.

„Beides kann gefährlich sein“, erwiderte Mira. „Wirst du antworten?“
Clara dachte an den Satz hat mich gerettet. „Noch nicht.“
Sie steckte die Karte in das Perlmuttkästchen. Zwei Karten, zwei Sätze, zwei Tropfen in einem Becken, das sich langsam füllte.

Draußen riefen die Möwen. Eine von ihnen antwortete ein zweites Mal.
 

Kommentare (4)

fraun

Guten Morgen Peter,

ein neues Kapitel, das neugierig auf die Fortsetzung macht.

Ein schönes Wochenende und viele Grüße 
Anne

 

Agni

@fraun  
Guten Morgen Anne, danke für deinen Kommentar, 
das 3. Kapitel ist in Planung.

Dir auch ein schönes Wochenende und viele Grüße zurück 
Peter
 

indeed

Eine gute Erzählung, die mir gefallen hat. Den ersten Satz habe ich zwar nicht gelesen, aber der zweite Satz hat eine sehr interessante Aussage.

Er gibt Anstoß zu überlegen: 1. wer hat dies geschrieben? 
                                               2. eine etwaige Auflösung wird in die Waagschale geworfen
                                               3. dem Leser bleibt es seiner Fantasie überlassen 
                                                   wie es ausgeht und was wohl die richtige Auflösung
                                                   gelingen wird, alles richtig einzuordnen.

Besonders schön finde ich aber, dass hier ein Beispiel aufgeführt wird, was Worte zu sagen vermögen und natürlich damit auch die Kraft eines Wortes in jeglicher Richtung.

Vielen Dank und liebe Grüße von

indeed

Agni

@indeed  
Danke für deinen Kommentar indeed,
und es stimmt schon, Worte sind ein fast universelles Ausdrucksmittel für unsere Welt aber auch für unsere Fantasie. Fast wie Musik 😌.

Liebe Grüße von Peter 

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