Deutsche Sprache, Plattdeutsch und Ruhrpottdeutsch


Deutsche Sprache, Plattdeutsch und Ruhrpottdeutsch


Ich kam im September 1952 im Ruhrgebiet zur Welt.
Aufgewachsen bin ich bei meiner Urgroßmutter, Hulda Hedwig Peters, geboren am 22. April 1893 in Witten, was auch später meine Heimatstadt wurde.

Die Schulbildung um das Jahr 1900 kann man wohl kaum mit unserer Schulzeit vergleichen. Und erst recht nicht mit der Art, wie Schüler heute diese Zeit erleben. Es gibt keine Tafeln mehr, auf die mit Kreide geschrieben wird, schon unsere Kleinsten wissen, wie man mit Handy und Tablet in Windeseile findet, was man wissen oder mitteilen möchte.

Wenn ich an die Omi denke, sehe ich sie auf ihrem Stuhl neben dem Küchenschrank, ein Buch auf dem Tisch und geichzeitig srickte sie an irgendwelchen Socken, klick, klick, klick.... Bis heute verstehe ich nicht, wie man gleichzeitig lesen und stricken kann. Sehr viele Jahre später entstanden die Socken dann vor dem Fernseher.

Lesen war ihre große Leidenschaft, alle paar Tage lieh sie sich mehrere ihrer so heißgeliebten Liebes-, Arzt-, oder Heimatromane aus. Das Schreiben ging dann nicht ganz so flott, wenn sie einen Brief an ihre Schwester in Schleswig-Holstein schicken wollte. In Sütterlin natürlich.

Als dann Englischunterricht auf meinem Stundenplan stand, habe ich die Omi gebeten, mir doch bitte die Vokabeln abzuhören. Nach dem zweiten Versuch gab ich auf.

Bis Anfang der 60er Jahre unterhielt sich die ältere Generation grundsätzlich nur in Plattdeutsch. Für mich war es normal. Aber mit mir sprach man „Hochdeutsch“. Mit „MIR“ und „MICH“ hatten so einige ältere Leute oft Schwierigkeiten, hatte man doch den größten Teil des Lebens nur Platt geredet.
Mit mir und mich vertue ich mir nicht, dat kommt bei mich nich vor, Tante hassen Strick bei Dich, der Hund, der will nicht mit mich mit. Den Satz habe ich oft gehört. Oder gedacht.
Ich habe mich oft gefragt, warum man so plötzlich kein Platt mehr sprach. Irgendwann hörte man nur noch Hochdeutsch.

Ich liebe dieses Plattdeutsch, noch heute verstehe ich es einigermaßen, aber sprechen kann ich es gar nicht. Bis zu seinem Tod vor 30 Jahren habe ich einen lieben Bekannten gebeten, doch Platt mit mir zu reden, wenn er uns in Paris, wo ich lange gelebt habe, angerufen hat.

Der Vater meiner Kinder hat hier im Ruhrgebiet studiert und anschließend auch einige Jahre gearbeitet, bis wir nach Paris gezogen sind.
Er war noch nicht lange in Bochum, als ein sehr netter junger Mann aus Gelsenkirchen dem Franzosen ganz lieb erklärte, dass man sagt: „Jetzt isser WECH“, wenn jemand nicht mehr anwesend ist. Wech mit ch. Für Gelsenkirchen und den Ruhrpott ganz normal. Jacques hat es dann aber so gesprochen und geschrieben, wie man es ihm im Deutschunterricht beigebracht hatte.

Oft habe ich in den Straßen von Paris heimatliche Töne gehört. Ein gutes Gefühl. Und immer wieder habe ich Leute überracht, indem ich ihnen sagte, sie seien aus dem Pott. „Wie? Hört man das?“ Ja, als Kind aus dem Pott weiß man es sofort.

Allerdings habe auch ich mir eines Tages diese Frage gestellt. Niemand kam jemals auf die Idee, dass meine Wiege im Pott gestanden hat. Aber eines Tages kam mein ältester Sohn aus der Schule, schaute mich an und meinte: „Mami, Du hast gerade mit dem Pott telefoniert.“ Mich hat es umgehauen. Ich hatte tatsächlich kurz vorher mit jemandem aus der Heimat gesprochen. Mein Sohn meinte dann aber, es sei nur kurze Zeit nach diesem Gespäch gewesen, dann hätte ich „wieder normal geredet“.

Seit einigen Jahren lebe ich wieder in Witten. Ich war gerade erst seit kurzer Zeit zurück, als ich über den Rathausplatz lief, vorbei an einer Bank, auf der eine ältere und eine jüngere Frau saßen mit einem kleinen Mädchen, ca. 2 Jahre. „Komm, tu die Omma ma ei machen.“ Da wusste ich es mit ganz großer Sicherheit: Ich bin wieder zu Hause! Im Pott!


 

Kommentare (4)

Rosi65

Liebe Anita,

auch wenn ich mir manchmal Mühe gebe Hochdeutsch zu sprechen, so kann ich meine Herkunft jedoch niemals verleugnen. Aber wenn man dafür sogar ein Kompliment bekommt, dann zählt es wohl doppelt.


„Ach, ist das schön ihre Stimme zu hören! Endlich mal wieder in einer vernünftigen Sprache", teilte mir mal eine Vorgesetzte am Telefon ganz begeistert mit.😊
Sie war damals nämlich gerade von einer Dienstreise aus Sachsen zurückgekehrt.

Umgekehrt freute ich mich mal in einem Tunesienurlaub heimatliche Klänge zu hören.
Auf dem Rückweg von einer Autotour stand ich bei eintretender Dämmerung nämlich an der einsamsten Kreuzung der Welt. Weit und breit kein Haus, keine Vegetation, sondern nur trockenes Land. Müde, verschwitzt und hungrig wollten wir alle nur noch schnell zurück in unser Hotel.
Doch während ich noch schwer überlegte welchen Weg ich denn nun auswählen sollte, hielt plötzlich ein VW-Bulli neben mir an.
Der Beifahrer beugte sich weit aus dem offenen Fenster und rief mir laut zu:
“ Hömma, wat is los? Wo willze denn hin?“ 
😂
Der gute Ruhrgebietsengel wusste zum Glück Bescheid.

Viele Grüße
  Rosi65

IndianSummer1952

@Rosi65  

Ach, liebe Rosie, war dat schön, dat zu lesen, laut gelacht so miitten Tränken inne Augen. Ich danke Dir.

Trotz der Französischen Staatsangehörigkeit bin ich immer noch ein Kind aus dem Pott.

Bei mir hat man wirklich nie gehört, woher ich kam. Als Kind um mich herum Freunde, deren Eltern streng darauf achteten, dass das Kind reines Hochdeutsch sprach. Während des Studiums so gut wie niemand aus dem Pott um mich, dann kam der Franzose, der zu der Zeit in Herne lebte... 1976 sind wir nach Köln gezogen, Frédéric ise ne Kölsche Jung, in Köln-Kalk geboren. 1980 ging es nach Paris, natürlich hatte ich auch Bekannte aus Deutschland, aber niemand war aus meiner Heimat. Familie gab es seit 1971 nicht mehr. 
Erst 1991 hat mich jemand gefunden und zu einem Klassentreffen eingeladen

Ich denke, ich habe den Dialekt unbewusst abgelegt, aber gänzliich aus dem Herzen verschwunden war er nie. 
Als Frédéric mir dann auf den Kopf zusagte, dass man hörte, was ich getan hatte, habe ich mich erst einmal auf den Allerwertesten gesetzt.

Wie sagt man: Du kannst mich aus dem Pott holen, aber nicht den Pott aus meinem Herzen.

Ach ja, eine Freundin aus Kindertagen war irgendwann mit Mann und Tochter in Amerika, Grand Canyon. Und ganz plötzlich standen Deutscbe neben ihnen, aus.......Witten. Die Welt ist klein!

Getz sachich nochma Danke schön und wünsch nen schönen Abend.
Viele Grüße
Anita

ladybird

Liebe indian Summer, 
in den "Pott", liebe Grüße und Dank für diese interessante "Reise" durch Deine verschiedenen " Sprach-Erfahrungen , ich habe sie mit Interesse gerne gelesen,
herzlichst 🐞-Renate

IndianSummer1952

@ladybird  

Liebe Renate,

danke für Deine  Zeilen, es freut mich sehr, dass meine Erinnerungen Dir gefallen.

Viele Grüße nach Köln, 💗
Anita

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